Kein Vorhang

Mit Backstage-Theater wollte die Kunstgruppe Rimini Protokoll Corona begegnen. Doch wegen Kurzarbeit wurde die vielversprechende Schauspiel-Alternative abgesagt

By Björn Hayer

25.07.2020 / www.freitag.de

Verlassene Straßen, beklemmende Stille. Manch einem dürfte die Shutdown-Phase als eine dystopische Vorwarnung à la Hollywood erschienen sein. Und obgleich sich in den meisten Bereichen unseres Daseins zumindest teilweise wieder eine Normalität eingestellt hat, gilt dies nicht für die Theater: An den leeren Bühnenhäusern nagt der Zahn der Zeit. Merkwürdig verpufft sind die mal großen, mal nicht ganz so großen Momente, vorüber die Spannung vor dem sich hebenden Vorhang. Was bleibt, sind vorerst die Erinnerungen, die wieder aufleben zu lassen, sich nun das Schauspiel Stuttgart zur Aufgabe gemacht hat.

Man ist allerdings allein und sitzt auch nicht bequem im wohlbekannten Saal. Geführt wird man in Black Box. Phantomtheater für 1 Person via Kopfhörer backstage. Eine derartige Anordnung erweist sich als typische für die Regie von Stefan Kaegi /Rimini Protokoll. Ihre Avantgarde sucht seit Jahren mittlerweile auch schon klassisch das klassische Schauspiel zu durchbrechen und eine enge Interaktion mit dem Publikum herzustellen. Bevor wir uns auf den Weg begeben, erklärt einem Sylvana Krappatschs Stimme aus dem Off daher zunächst die besondere Rolle des Zuschauers. Er wird zur Kamera. „Aufgezeichnet wird nicht auf Film, sondern in deinem Gedächtnis.“ Zum einen trifft diese Devise auf jeden Besuch im Theater zu, die – als flüchtigste Kunst – lediglich in unseren Erinnerungen fortbesteht. Zum anderen wird hier ein neues Format aus der Taufe gehoben: das Bewusstseinstheater. Während man den endzeitlich anmutenden Parcours durch die Backstage-Bereiche durchläuft, entstehen Bilder ausschließlich im Kopf. Wo zuvor noch Menschen wirkten, wird man lediglich noch Spuren gewahr: alte Kostüme in der Garderobe, staubige Requisiten im Lager, alles steht im Zeichen des Verlusts, der Nostalgie und Träume anregt. Dinge wie miefige Koffer, eine Flamingofigur, Plastikgemüse und alte Bühnenpläne, darunter „Orpheus und Eurydike 1955“ oder „Heimatlos 87“.

Der Spaziergang durch die entseelten Räume geht dabei weit über eine einfache Führung hinaus. Vielmehr lädt uns die Dramaturgie in Form von hörbaren Interviews mit Intellektuellen, Experten und jenen, die ansonsten hier üblicherweise arbeiten, zum Lauschen theaterphilosophischer Miniaturen ein.

Vor dem Maskenspiegel erzählt man uns, wie das Individuum mittels Schminke in ein anderes Sein, etwa in das Kollektiv des Chors übergeht. In der Abteilung zur Lichtsteuerung wird die Illumination, ausgehend vom Prometheus-Mythos, als Praxis der Aufklärung beschrieben, die mithin auch das gesellschaftliche Selbstverständnis des Theaters als Anstalt für Bildung und Humanität ausmacht. Und wenn wir den Platz der Souffleuse, des Souffleurs einnehmen, werden wir deren geradezu metaphysischer Präsenz gewahr.

Damit die Magie des Hauses sich ohne Schauspiel entfaltet, setzt die Regie immer wieder kleine technische Akzente, ein gemaltes Dorf auf der Betonwand im Keller, über dem idyllisch ein Schnee aus Federflocken fällt. In einem anderen Raum bläht sich ein Kostüm auf, ganz so, als stünde ein Mensch darin. Irgendwo dreht sich ein Globus. Es sind kleine, aber klug platzierte Metaphern für den von vielen vermissten Illusionsraum. In alledem nur einen melancholischen Abgesang zu vernehmen, griffe jedoch zu kurz. Gerade das Ende dieser verspielten Tour d’Horizon bietet noch einmal die ganzen faszinierenden und ergreifenden Möglichkeiten des Theaters auf. Denn im Bühnenraum begegnen wir erstmals jenen, die in festgelegten Slots fünf Minuten vor oder nach uns gestartet sind. Zunächst tritt man auf der großen Bühne in den Kegel des blendenden Lichts. Richten sich die Scheinwerfer kurz danach auf die Stuhlreihen, bemerkt man eine weitere BesucherIn. Zwei Blicke treffen aufeinander und schaffen kurz eine Intimität in der Distanz. Da steht ein fremdes Gegenüber, das man möglicherweise nie wieder sehen wird. Kurz teilt man die stockende Luft, die ungeteilte, fragilste Nähe zwischen Ich und Du. So gewährt uns diese berührende Konzeption nach einem Gang durch die Geschichte einen Atemzug voller Gegenwart.

Werden die Spielpläne nach der Pandemie uns wieder locken? Werden sich Protagonisten auf dem Parkett wieder küssen? Wer weiß das schon. Zumal zu allem Unglück nun auch noch alle weiteren Vorstellungen von Black Box in dieser Spielzeit kurzfristig wegen verordneter Kurzarbeit abgesagt wurden – dies betrifft die Mitarbeiter des Bühnenhauses wie auch Rimini Protokoll. Schade ist das, tragisch. Dass eine emotional starke Inszenierung und ästhetische Erneuerungen mit und trotz und gegen Corona gelingen können, wurde unter Beweis gestellt. Stuttgart hat mit Black BoxMaßstäbe gesetzt – nicht ohne das nötige Quäntchen Wehmut und Verzagtheit, aber keineswegs aus dem Gestus der Verzweiflung heraus. Die schemenhaften Geister aus der Vergangenheit, die man im Laufe des Abends oftmals als echte Menschen hinter den Stimmen zu sehen glaubt und sich doch nur als Wunschprojektion darstellen, muss man nicht fürchten. Ganz im Gegenteil: Wie man nunmehr feststellen kann, sollte man sie mit Inbrunst heraufbeschwören.


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