By Tobi Müller
26.02.2007 / Tages-Anzeiger
«Der Spiegel» hievte ihn vor anderthalb Jahren auf den Titel. Und wusste von einem steigenden Interesse an seinen Werken. Vielleicht auch von einer Mode. In der Halle 2 im Zürcher Schiffbau spürt man das alles, wenn Rimini Protokoll dem Hauptwerk von Karl Marx zu Leibe rücken: Geschichte, Aktualität, auch Pop. Schon die Bühne zeigt das an. Es ist ein übergrosser Setzkasten, gefüllt mit lebendigen Biografien. Gleichzeitig ist es auch ein Regal voller Büsten und Bücher.
Klassische Enthüllungsstory
Es war kurzweilig. Es war konzentriert, immer wieder. Das Regiekollektiv Rimini Protokoll (Helgard Haug und Daniel Wetzel) hat Leute gecastet, die man mit Marx in Verbindung bringen kann, aber nicht unbedingt muss. Es sind, wie man bei den Riminis sagt, «Experten», nicht Laien, schon gar nicht Schauspieler. Sie spielten erst in Düsseldorf, dann in Berlin, jetzt in Zürich. Es wurden mehr Fragen gestellt als beantwortet. Zum Glück. Und manchmal, wie das so geht in einer Bibliothek, schweifte man auch ab. So ging es mir. Zum Beispiel mit der «Gallerte». Das ist ein Wort, das zwei berühmte, dicke blaue Bücher verbindet. Beide sind Bestseller: «Das Kapital, Erster Band» von Karl Marx und Frank Schätzings Ökothriller «Der Schwarm». Bei Schätzing sind es intelligente Wesen der Tiefsee, die eine beliebige Gallerte bilden. Bei Marx bezeichnet die Gallerte den Tauschwert der Ware, den Kern des kapitalistischen Wesens. Die Formlosigkeit dient beiden Autoren als Ausdruck der Gefahr. Und bedroht wird jeweils nichts weniger als - der Mensch.
Marx schrieb keinen Thriller im klassischen Sinn, aber eine klassische «Enthüllungsstory». So nennt
Thomas Kuczynski das Opus magnum des Grossen Bärtigen. Eine Enthüllungsstory über den «Schein des Wesens» des Kapitalismus. Kuczynski weiss es wie kein Zweiter an diesem knapp zweistündigen Abend. In der DDR lehrte er Wirtschaftsgeschichte, ganz am Ende leitete er das Institut in der Akademie der Wissenschaften. Kuczynski ist einer von acht Experten, die nicht anders können, als letztlich doch zu spielen. Eine Bühne ist eine Bühne. Und auf einmal, gegen Ende, klingt sein Ton schneidend. Er zitiert, er doziert - längst hat das Publikum das blaue Buch selbst im Schoss und blättert darin. Das Gespenst dieser Produktion ist nicht mehr der Kommunismus. Das Gespenst ist die «Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei».
Marx als Feuerwerkskörper
Man hat bis zu diesem Zeitpunkt von den Grausamkeiten im Osten oder jugendlichen Aktionen im Westen zwar gehört, die unter marxscher Flagge begangen wurden. In Erzählungen, in Berichten, in Videos. Doch auf der Bühne erfahrbar wird die Autorität erst in diesem unheimlichen Ton. Oder könnte alles auch bloss Spiel sein? «Karl Marx: Das Kapital, Erster Band» wirkt wie ein Pop-Titel für diese heitere Bühnenreflexion. Hätte man Marx vermitteln oder gar seine «Aktualität» behaupten wollen, würde das Stück «Das Manifest der kommunistischen Partei» heissen. Das «Manifest» ist 200-mal knapper und viel verständlicher. Und im «Manifest» steht ziemlich genau, wie die Globalisierung heute aussieht. Geschrieben vor 160 Jahren von Marx und Friedrich Engels, seinem Ernährer und editorischen Vollstrecker. Doch mit der Sehnsucht nach einer Marx-Lektüre kommt man hier nicht weit. Gebrauchswert und Tauschwert werden noch verständlich, mit der Verwandlung von Geld in Kapital, mit der Theorie des Mehrwerts hapert es dann. Das ist nicht schlimm, das will der Abend ja gar nicht leisten. Vielleicht verhält es sich so: Marx ist ein Feuerwerkskörper, der in diesen Biografien bis zur Unkenntlichkeit explodiert.
Überläufer und Anlagebetrüger
Ein Glücksfall für das Rimini-Casting ist der blinde Christian Spremberg aus Hamburg. In Blindenschrift liest er aus dem «Kapital», sein Joker sind aber seine 20 000 Platten, darunter viele Werbejingles. Ein paar davon spielt er ab und kommentiert sie ironisch. Ein schöner Berührungspunkt: Der «Reichtum der Gesellschaften», so heisst es im ersten Satz des «Kapitals», «erscheint als eine ungeheure Warensammlung» - bei Spremberg, der sehr radiofon lesen kann, wird dieser Schein der Waren zur reinen Akustik.
Eine Notwendigkeit eines solchen Projekts stellt Jochen Noth dar. Zu Worten von Rudi Dutschke sehen wir den Studenten Noth im Video auf einen Teppich scheissen und später Geld verbrennen. Dann erzählt er von seiner langen Zeit in China, wie er nach Deutschland zurückkehrte und seine linke Bibliothek «in diese Produktion entsorgt» hat. Heute ist er Consultant. Ein Überläufer, das muss sein.
Schlau wird der Abend auch, wenn er seine Regel bricht. Wenn er jemanden auftreten lässt, der nicht sich selbst spielt. Der Anlagebetrüger Jürgen Harksen erzählt von der Anhäufung seines Milliarden-Vermögens. Und als Zuschauer ist man in einer ähnlichen Situation wie seine ehemaligen Gläubiger: Das ist Harksen? Nein, es ist Ulf Mailänder, Harksens Biograf, der dann auch noch seine echte Geschichte berichtet.
Warencharakter der Person
Es gibt noch vier weitere Experten: einen im Sowjetkommunismus aufgewachsenen Filmemacher aus Riga, eine in Ostberlin geborene Übersetzerin, die den Letten dolmetscht, einen Spielsüchtigen und einen jungen Globalisierungskritiker, beide aus Düsseldorf. Was Rimini Protokoll beherrscht: diese Leute auf dem Grat zwischen Person und Performance nicht abstürzen zu lassen und sie sanft in die Höhen des Themas zu begleiten. Dass die Person dabei doch immer wieder Warencharakter annimmt, gehört dann mit zur Ironie des - pardon - Kapitalismus.