By Meike Hauck
24.06.2007 / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
"Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als die Armut." Mit diesem Satz endet Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame", das Theaterstück, das am 29. Januar 1956 im Züricher Theater Pfauen uraufgeführt wurde. Mit dem Stück wurde der Schweizer Dramatiker weltberühmt und also auch reich, was für ihn angeblich Fluch und Segen zugleich bedeutete. Fluch deshalb, weil es auch sein "missverstandenstes" Stück war. Missverstanden wohl in dem Sinne, dass viele Frauen darin eine Rechtfertigung für die Rache an untreuen Männern lasen, wo es Dürrenmatt doch eher um eine Kritik an der westlichen Wohlstandsgesellschaft ging. Der ewig arme Dramatiker war also plötzlich reich geworden, ausgerechnet mit einem Stück, das erzählen will, wie Geld Moral und Gerechtigkeit außer Kraft setzen kann.
Das Regiekollektiv Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel), Schüler der "Gießener Schule", dem Institut für angewandte Theaterwissenschaften in Gießen, hat jetzt in Zürich versucht, eben auf jener Bühne des Züricher Schauspielhauses in Form einer Séance die Uraufführung vom "Besuch der alten Dame" zu rekonstruieren, 51 Jahre und ein paar Monate später. Rimini Protokoll sind für ihr Dokumentartheater mit Alltagsexperten bekannt, mit dem sie schon seit Jahren Feldforschung in Sachen Theaterneuerfindung betreiben.
Es beginnt damit, dass eine Regiestimme, die den ganzen Abend dramaturgisch mitgestaltet wird, die Zeit ansagt. Dann tritt die ehemalige Direktionssekretärin des Schauspielhauses auf, Bibi Gessner, und erzählt, wie Dürrenmatt ihr immer schon frühmorgens den Text mit den über Nacht gemachten Änderungen zum Abtippen gebracht habe und wie sie damals vor lauter Stress immer betete, "dass dem Dürrenmatt heute nix einfällt". Der Stress war aber auch der Grund, warum sie sich heute noch daran erinnert, wie das war mit der Uraufführung, und damit ist eines der großen Themenfelder des Abends eröffnet: Wie funktioniert Erinnerung? Es zeigt sich, dass Erinnerung offenbar immer dann besonders gut funktioniert, wenn es um persönliche Details geht, und mit ihren lakonisch vorgetragenen Anekdoten treffen die Zeitzeugen auf der Bühne auf große Sympathie im Zuschauerraum. Unter den Zeitzeugen im Rentenalter sind der ehemalige Bühnenarbeiter Hans Städeli, die Zuschauer Johannes Baur und Kurt Weiss und die frühere Fernsehmoderatorin Eva Mezger, die nicht bei der Uraufführung sein konnte, weil sie eine Ansage im Fernsehen machen musste. Spätestens an der Stelle, als sie beschreibt, wie sie sich selbst "zurecht"-machen musste, damit sie "von vorne" gut aussieht, wird klar, worum es hier auch geht: darum, die Arbeitsweisen des Theaters (an dieser Stelle auch des Fernsehens) zu durchleuchten und zu hinterfragen. Folgerichtig treten auch der damalige Regieassistent Richard Merz auf, der anmerkt, dass er inzwischen Psychotherapeut und vom Theater ganz weg sei, und drei Mitglieder des ehemaligen Kinderchors (Ursula Gähwiler, Hansueli Graf, Christine Vetter), die sich noch erinnern können, wo auf der Bühne sie genau standen, und dann anfangen zu singen - wie damals.
Das Bühnenbild (Simeon Meier) besteht aus auf lebensgroße Pappfiguren aufgezogenen Originalfotos der Schauspieler aus der Inszenierung von 1956, die die Zeitzeugen entsprechend der Anweisungen aus dem Regiebuch auf der Bühne hin und her schieben. Die Zeitzeugen spielen so nach, was ihnen noch eingefallen ist ("Wie spielt man Altsein?"), und das ist stellenweise sehr komisch, weil niemand die Sache oder sich selbst zu ernst zu nehmen scheint. Die Laiendarsteller machen ihre Schutzlosigkeit auf der Bühne mit viel Witz wett und werden dadurch so sympathisch, dass es fast schon langweilig wird. Aber eben nur fast. Hin und wieder senkt sich eine Folie mit Umrissen des damaligen Bühnenbilds herab, und die Zeitzeugen nehmen die Positionen der Schauspieler ein - die verblassende Erinnerung (zweidimensional, schwarzweiß) trifft so auf das Jetzt (dreidimensional, in Farbe), und dabei entsteht ein nostalgisch gefärbtes Bild verschiedener Erinnerungsfetzen, das durch die biographischen Einwürfe zu einem komplexen Vexierbild wächst. Allerdings lässt sich durch die Brüche zwischen Nachstellung des Originals und Diskussion darüber nie ein stringentes Bild der ursprünglichen Inszenierung entwickeln, der Verfremdungseffekt wird bis zum Exzess betrieben, und wo andere Theater bei dem Versuch steckenbleiben, den Stil der Berliner Volksbühne zu kopieren, zeigen Rimini Protokoll auf intelligentere und komplexere Weise, wie man Illusionstheater vernichtet.
Nach der Pause sind die Zuschauer, die wohl eine Inszenierung des Dürrenmatt-Stücks erwartet hatten, gegangen, die Zeitzeugen sind von der Bühne verschwunden, und im obligatorischen Rimini-Kunstnebel tanzt das Pappensemble ein mechanisches Ballett. Rimini Protokoll wuchten hier alle Mittel, die das Theater bietet, inklusive Marionetten, auf die Bühne. Das wirkt wie ein Voodoo-Zauber zur Realismus-Austreibung, denn dann kommen plötzlich - ja - Kinder auf die Bühne und spielen den letzten Akt der "Alten Dame" in Kostümen, die der Urinszenierung nachempfunden sind, und mit dem Gestus "echter" Schauspieler. Ein schöner, selbstironischer Einfall, außerdem die Absicherung, dass es in fünfzig Jahren Zeitzeugen geben wird, die sich an diese Premiere erinnern werden.
Vor einer Woche wurde Rimini Protokoll der renommierte Mülheimer Dramatikerpreis für "Karl Marx: Das Kapital. Erster Band" verliehen, was Vertreter herkömmlicher Dramatik wie den Verlag der Autoren zu Protestrufen veranlasste angesichts der Tatsache, dass es nicht mal einen Dramentext zum Nachspielen (also Geldverdienen) gibt. Die Frage, die angesichts der Mülheimer Jury-Entscheidung aufgeworfen wurde, ob es sich bei dem Regiekollektiv um Dramatiker handelt, um Schöpfer von Bühnenwerken, ob also dieser Preis zu Recht vergeben wurde, beantwortet dieser Abend im Sinne eines erweiterten Dramatikbegriffs zweifelsfrei mit Ja.