By Tan Wälchli
24.08.2006 / WochenZeitung
Wofür ist Solothurn berühmt? Als LeserInnen dieser Seiten werden Sie sagen: die Filmtage, die Literaturtage – und Peter Bichsel. «Die Filmtage, das war schon cool, da bin ich immer hingegangen da habe ich meine ersten Dokumentarfilme gesehen.», sagt auch Stefan Kaegi. Wir sitzen in einer kleinen, ganz neuen Bar, hübsch an der Aare-Promenade gelegen. Drinnen sieht es aus, wie man es heute kennt: nüchtern, hell und viel schlichtes Holz. Teatime.
Stefan Kaegi ist mal wieder in Solothurn. Hier ist er aufgewachsen. Aber für mehr als ein JetSet-Wochenende reicht es heute nicht mehr. Denn Kaegi ist das Gegenteil von Bichsel: ein Global Player. In den letzten fünf Jahren ist er mit dem freien Regiekollektiv «Rimini Protokoll», zu dem auch Helgard Haug und Daniel Wetzel gehören, sehr schnell sehr berühmt geworden. Egal ob in Berlin oder Cordoba, Warschau, Kalkutta, Wien, Buenos Aires oder Riga (um nur einige wenige Namen zu nennen), überall spielte «Rimini Protokoll» euphorische Kritiken ein. Kein Wunder, sind die drei unterdessen auch in der Teppich-Etage des etablierten Theaterbetriebs willkommen. Im Frühling spielten sie am Schauspielhaus Zürich und am Theatertreffen Berlin, und soeben wurde Kaegi mit seinen Basler Produktionen «Mnemopark» und «Cargo Sofia» von den französischen Zeitungen zum Star des Festivals in Avignon ernannt.
«Naja, Avignon ist halt ziemlich traditionell», sagt Kaegi. «Es gibt viel Akrobatik und man legt grossen Wert auf das Handwerk.» Da musste er zwangsläufig auffallen. Denn «Rimini Protokoll» arbeitet mit Laiendarstellern, die sich selbst spielen. «Nein, Laien ist ganz falsch, damit hat es nichts zu tun», wirft er ein. «Wir nennen sie Spezialisten, weil sie nicht versuchen, jemanden virtuos zu spielen, sondern weil sie jemand Spezielles sind.» Jedenfalls sind es Leute ohne Theaterausbildung, zum Beispiel die Modelleisenbahnbauer aus «Mnemopark» oder die LKW-Fahrer aus «Cargo Sofia». «In Avignon waren die Leute etwas beleidigt, als ich gesagt habe, dass das Theater dreissig Jahre hinter der bildenden Kunst im Rückstand sei», schmunzelt Kaegi. Dabei sehe man es doch deutlich an den Ausbildungsstätten. Die meisten Theaterschulen seien noch immer auf Schauspiel-Technik fixiert, während die Kunstschulen in den Siebzigerjahren – Stichwort erweiterter Kunstbegriff – gemerkt hätten, dass der Inhalt wichtiger als die Technik sei.
Systemtheorie
Damit wären wir bei den Anfängen von Kaegis Karriere. Bevor er nämlich in Giessen Theater studierte – und dabei Wetzel und Haug kennen lernte, – absolvierte er in Zürich die Kunstschule «F&F». «Ein richtiger Künstler wollte ich zwar nicht werden, schon eher ein Kurator», erinnert er sich. Unter anderem betrieb er damals mit Regula Kopp vom Performance-Duo «Joko» während eines halben Jahres den Kunstraum «Jäger und Sammler». Dort, so erzählt er, hätten sie erstmals mit menschlichen Ready Mades experimentiert. Einen Abend hat er bis heute nicht vergessen: Zu Gast war ein Jagdverein aus dem Zürcher Oberland, der mit seinen Trachten und Jagdhörnern das Publikum verzückte.
Im Vergleich zu damals sind die Projekte heute viel komplizierter. «Rimini Protokoll» stellt die Spezialisten nicht einfach auf die Bühne, sondern arbeitet mit ihnen bis zu zwei Monaten lang. Soviel Zeit braucht es unter Umständen, bis es den den Leuten gelingt, ihre eigene Rolle zu spielen. «Wir sind gewissermassen ihre Redenschreiber, ihre biographischen Ghostwriter», sagt Kaegi. Dabei gebe es in der Zusammenarbeit immer auch Teile der Biographie zu entdecken, die vorher nicht bewusst gewesen seien. Zum Beispiel sei es bei den Lastwagenfahrern eine Art Berufsethik, sich nicht damit zu beschäftigen, was sie transportieren. Wenn solche Lücken auftreten, fasst der Ghostwriter also einen neuen Job. Er muss recherchieren.
Überhaupt geht es bei «Rimini Protokoll» niemals nur um das persönliche Schicksal. Ebenso wichtig sind die Systeme, in denen sich die Einzelnen – meist unbewusst – bewegen. Kaegi scheint sich dabei vor allem für wirtschaftliche Zusammenhänge zu interessieren. Wenn in «Cargo Sofia» die beiden bulgarischen Chauffeure von ihrer nie endenden Reise quer durch Europa erzählen, lernen wir mehr über den transeuropäischen Warentransport, als in jeder Zeitung steht. Auch wenn, wie in früheren Projekten, Mitarbeiter der belgischen Fluggesellschaft Sabena oder arbeitslose argentinische Pförtner ihre Situation schildern, lauert im Hintergrund die grosse, noch nicht erzählte Story: Was hat es mit der Krise im Fluggeschäft (und der desaströsen Konzernstrategie der «Swissair») auf sich? Wie ist der Zerfall der argentinischen Währung zustande gekommen? In «Mnemopark» plaudert Kaegi gar das Betriebsgeheimnis der Schweizerischen Landwirtschaftspolitik aus: Die Doktrin der potentiellen Selbstversorgung, die nach dem 2. Weltkrieg aufgestellt wurde, hat heute zur Folge, dass heute noch 5 mal mehr Geld in Landschaftsgestaltung fliesst als in Kultur, obwohl jeden Tag 7 Bauern ihren Hof aufgeben.“
Bei diesen und weiteren, vergleichbaren Arbeiten ist kaum zu übersehen, dass «Rimini Protokoll» an die grossen alten Fragen des Theaters rühren. Einzelfall vs. System: Wie bringt man Biographie und kollektive Geschichte zur Deckung? Vergangenheit vs. Aktualität: Wie lassen sich Erinnerungs- oder Denkwege in Bühnenhandlung übertragen? Das Problem der Grössen- und Zeitverhältnisse: wie kann zum Beispiel der Transitweg durch Europa auf einer Rundfahrt durch die Stadt abgebildet werden? Dies alles verlangt nach sorgfältigsten Justierungen. Es ist Präzisionsarbeit. Im besten Fall, wenn jedes Detail stimmt, zeigt sich dann plötzlich, dass die kleinen Leute von nebenan eine grosse Geschichte zu erzählen haben.
Besser als Fernsehen
Dennoch: Sieht Kaegi keine Gefahr des Voyeurismus? Werden seine Spezialisten unter Umständen nicht blossgestellt? Er wiegelt ab. Natürlich, sagt er, wolle er im Theater Menschen sehen und zeigen. Insofern sei er gerne und bewusst Voyeur. Aber der entscheidende Punkt sei die Direktheit der Konfrontation, dass man gemeinsam im selben Raum sitze. «Es gibt keine Mattscheibe dazwischen. Du kannst nicht wegzappen.»
Zum Vergleich erzählt Kaegi eine unerfreuliche Begegnung mit dem Konkurrenzmedium Fernsehen. Bei «Blaiberg und Sweethart 19», der Produktion am Zürcher Schauspielhaus diesen Frühling, war eine russische Partnervermittlerin beteiligt. Sie bringt Frauen, die heiraten wollen, nach Westeuropa, und verkauft in umgekehrter Richtung Zahnarztbesuche. Ausgebildet aber wurde sie einst zur Staatsanwältin, und entsprechend überzeugend kam sie beim Publikum an. So überzeugend, dass sie vom Schiffbau über die Strasse in Kurt Aeschbachers Fernseh-Talk-Show eingeladen wurde. Das sei fürchterlich gewesen, so Kaegi, die Darstellerin sei richtiggehend ausgenutzt worden. «Man hat sie überhaupt nicht vorbereitet.» Zudem falle es enorm ins Gewicht, dass der Moderator den Plot in der Hand habe. «Er weiss von Anfang an, wie er seine Gäste am Ende aussehen lassen will.» Wenn dann jemand noch Probleme mit der deutschen Sprache habe, sei nichts mehr zu retten. «Am Ende hat Aeschbacher einfach die altbekannten Klischees wiederholt: Die russischen Frauen wollen nur unser Geld, Liebe kann es so nicht geben. Und unsere Spezialistin hatte keine Chance, sich zu wehren.»
Während ich ihm so zuhöre, fällt mir mal wieder ein, dass das Theater von Schiller einst als «moralische Anstalt» definiert wurde. Eine Veranstaltung, welche die Erkenntnis des Publikums fördern und s zu besseren Menschen machen soll. Ist es das auch für «Rimini Protokoll», eine moralische Anstalt? Kaegi zögert – und sagt dann jein. Erkenntnis sei ihm schon wichtig, aber mit der Moral von sozialdemokratischen Lehrern habe er nichts am Hut. Ich frage nicht, zu wem er in die Schule gegangen ist, denn die Zeit ist abgelaufen. «Denken ist sexy», sagt Kaegi noch. Dann rennt er auf den Bus und zeigt Solothurn die Schuhsolen.