Innig, echt, wahrhaftig

By SIMONE DATTENBERGER

14.08.2023 / ovb-heimatzeitungen.de

Für Helgard Haug, die mit Stefan Kaegi und Daniel Wetzel das kreative Gespann von Rimini Protokoll bildet, war der Auftrag der Salzburger Festspiele eine neue Erfahrung und Herausforderung. Eigentlich entwickeln die Riminis eine faktengesättigte Art von dokumentarischem Theater zu einem Thema, etwa zu Geheimdiensten („Spy Game“) oder zur kritischen Ausgabe „Adolf Hitler: Mein Kampf“. Dazu werden in der Regel Expertinnen und Experten befragt und eingeladen mitzuspielen.
Bettina Hering, die heuer letztmalig das Schauspielprogramm des Festivals gestaltete, wünschte sich jedoch von Haug ein „richtiges“ Stück. Die Wahl fiel auf Bertolt Brechts und Ruth Berlaus Drama „Der kaukasische Kreidekreis“, das am Ende des Zweiten Weltkriegs entstand. Außerdem wünschte sich Hering, dass die Produktion mit dem Zürcher Theater HORA entwickelt werden sollte. Gerade dieses Ensemble von Profis mit kognitiver Beeinträchtigung gab dem Projekt einen besonderen Schub. Es feierte am Samstagabend in der Szene Salzburg seine Uraufführung (Kooperationspartner sind zusätzlich das HAU in Berlin, das Theater Winterthur und das Staatstheater Mainz).
Haug gelang mit ihrer Crew ein Meisterstück. Sie entwickelten so klug wie liebevoll dieses, ihr Werk nach Brecht, bei dem sich die Facetten der Schauspielerpersönlichkei-ten nicht nur entfalten können (zwischen Rampensau und Spiel auf Video-Distanz), sondern zu integralen Bestandteilen wurden. Auch dadurch wird Brechts Episches Theater geehrt und in seiner Wirkmächtigkeit bewiesen (vielleicht gaben deswegen die strengen Brecht-Erbinnen ihre Zustimmung). Denn Rolle (Fiktion), das Heraustreten aus ihr und Zeigen der realen Person werden von der Regisseurin so verflochten, dass künstlerische Wahrheit und authentische Wirklichkeit zu einer innigen Wahrhaftigkeit werden.
Bei diesem „Kreidekreis“ ist Verfremdungseffekt nicht ein altbackener Abiprüfungsstoff; bei Haug und den Horas weißt du, warum es jenes Stilmittel unbedingt geben sollte. Das gilt für die schwyzerdütschen Elemente genauso wie für die projizierten Schriften. Das gilt für die Bücher mit der Vita plus Kinderfotos der Darstellerinnen Simone/Elena Gisler (so quirlig wie verletzlich) und Tiziana Pagliaro (gelassen, humorvoll; arbeitet auch an den Münchner Kammerspielen), der Musikerin Minhye Ko (Marimba) und der Schauspieler Remo/Pitch Beuggert (witziger, souveräner Spielmacher), Robin Gilly (präsent, voller Spaß) und Simon Stuber (guter Sprecher) genauso wie für das Spielfeld (Bühne: Laura Knüsel) mit seinen grünen und magentaroten Quadraten, die sich teils heben und senken. Das gilt für das Computer- oder Kreidezeichnen genauso wie für die Musik. Die Komposition von Barbara Morgenstern (ohne Paul-Dessau-Pfiff) ist allerdings recht eintönig und zu dominant.
Helgard Haug, von der gerade der dokumentarische Roman „All right. Good night.“ erschienen ist (wir berichteten), hält bei allem Respekt vor Brecht und Berlau an der Idee von Rimini Protokoll fest. Die Fakten sind in den Künstlerinnen und Künstlern mit Beeinträchtigung und ihrem Stand in unserer Gesellschaft manifestiert. Während der acht (!) Proben auf die im Verlauf des Stücks die rivalisierenden Mütter, freilich ebenso ihr Kind, der Richter Azdak, der Soldat Simon und die Musikerin (bei Brecht „Der Sänger“) und, ja, auch wir im Publikum gestellt und zugleich all ihre Abenteuer erzählt werden, offenbaren sich die Spielregeln unserer Konsumgesellschaft. Was haben die Mütter zu bieten? Das fragte schon Brecht; und heute heißt das: iPhone der tollsten Marke versus Liebe.
Haug geht mit ihrem Ensemble weiter. Wären die Männer die besseren, die „mütterlichererern Mütter?“, wie Gilly mit schalkhaftem Genuss sagt. Hätte Grusche, hätten wir das Baby gerettet, wenn wir eine körperliche Schwäche oder etwas Hässliches bei ihm entdeckt hätten? Fragen soll man stellen; es muss argumentiert, dann abgewogen werden. Eine klare Antwort, wie Brecht sie im „Kreidekreis“ gibt, verweigern die Künstler 2023. Sie halten es mit dem Brecht des „Guten Menschen von Sezuan“ von 1938/40: „Der Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Sehr herzlicher Applaus.

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The Caucasian Chalk Circle