In die Vergangenheit hineinhören

«50 Aktenkilometer» - ein begehbares Stasi-Hörspiel von Rimini Protokoll in Berlin

By Sieglinde Geisel

30.06.2011 / Neue Züricher Zeitung

Es ist, als spräche die Stadt zu uns. «Wir stehen hier vor einem rötlichen Haus», spricht es aus dem Handy. «Setzen Sie sich ruhig bequem.» In dem rötlichen Haus am Gendarmenmarkt residierte früher die Zentrale der Ost-CDU. Peter Brinkmann, seinerzeit DDR-Korrespondent der Bild-Zeitung, berichtet nicht nur von der Ausspähung seiner Kontakte durch die Staatssicherheit, sondern auch vom Kaffeschwatz mit Lothar de Maizière nach dem Mauerfall. De Maizière habe sich über Kohls Begehrlichkeiten geärgert und dafür gesorgt, dass das Vermögen der Ost-CDU nach der Wiedervereinigung nicht auf dem Konto der Schwesterpartei gelandet, sondern als Abfindung in die Taschen der Ostmitglieder gelossen sei.

Man spaziert weiter, lässt sich an der Glinkastrasse von einem Nachrichtentechniker die Abhörmethoden des Staatssicherheitsdienstes erklären und hört sich am Brandenburger Tor die Erzählung einer ehemaligen Westberlinerin an: Mittels eines «fliegenden Teppichs» hatte sie am 1.Mai 1989 für die Reisefreiheit der DDR-Bürger demonstrieren wollen und kassierte dafür ein paar Stunden Haft. Doch die meisten Geschichten sind weit weniger gemütlich. In einem Telefongespräch aus dem Archiv des «Zentralen Operativstabs des MfS» wird Schusswaffengebrauch an der Grenze gemeldet. Sieben Schüsse. Der «Grenzverletzer» sei mit einer Luftmatraze über die Mauer geklettert, doch dann offenbar entkommen.

Dieses «begehbare Stasi-Hörspiel» ist die jüngste Produktion von Rimini Protokoll (in Kooperation mit Deutschlandradio Kultur und dem HAU). Gezeigt werden alle Facetten der Überwachung und Repression in der DDR, in Originaltönen aus dem Archiv sowie in Interviews mit Zeitungen. Seit kurzen (und bis auf weiteres) ist die Audio-Installation über das Internet frei verfügbar: Wer ein Android-Smartphone besitzt, kann die Applikation herunterladen und die «50 Aktenkilometer» auf eigene Faust erkunden. Anhand des dazugehörigen Stadtplans (zu beziehen beim Hau) macht man sich auf den Weg, am besten per Fahrrad, so schafft man es auch in die entlegeneren Gegenden von Berlin Mitte. Gerät man in den Empfangsbereich einer Audio-station, wird das Handy lebendig. Während man sich im Café Einstein Unter den Linden einen Platz sucht, sagt die Stimme aus dem Handy: «Schauen Sie sich um. Wem würden Sie etwas anvertrauen? Aus wem könnten Sie hier Information holen?» Diese inszenierte Aufforderung zum Mitspielen fegt die hinweg, der von fünf Monaten Isolationshaft berichtet. Als 20-Jähriger wurde er nach einem Fluchtversuch in einem fensterlosen Raum festgehalten, ohne Bücher oder Fernsehen, dafür mit täglichen Verhören durch einen Offizier, der ihn an seinen Vater erinnern und damit zum Reden bringen sollte – so das Kalkül der psychologischen Folter, an deren Folgen Melster bis heute leidet.

In Berlin liegen Vertrautes und Unbekanntes nahe beieinander, und die Stimmen aus der Vergangenheit machen das Vertraute fremd. In der Nähe des Checkpoint Charlie etwa kann man propagandistisches Liedgut auf sich wirken lassen – und staunt, wie schwer es einem fällt, sich dem unerträglich eingängigen Frohsinn des Tschekistenlieds «Kämpfer an der unbekannten Front» zu entziehen. Vor allem die Original-Telefonate der DDR-Sicherheitsorgane verleihen diesem Stadtspaziergang etwas Unheimliches. Die Stadt wird persönlich – ein Besucher, der sich Berlin auf diese Weise nähert, ist kein Tourist mehr.

 


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