By Stefan Keim
31.05.2016 / Deutschlandradiokultur
"Truck Tracks Ruhr" heißt die neue Performance des Theaterkollektivs "Rimini Protokoll": In Lastern fahren die Zuschauer durch Ruhrstädte, erleben dabei Video- und Tonkollagen, Hörspiele, Texte. Die Recklinghausen- Performance feiert bei den Ruhrfestspielen Premiere.
"Nee, hier ist leider besetzt." - Es ist eng im Truck. Die Knie stoßen an den Sitz der Vorderreihe, die Plätze sind für schmale Menschen gemacht. In drei Reihen quetschen sich die Zuschauer, während die Klimaanlage kühle Luft in den Raum pustet. Die Wand des Lasters ist nur von innen durchsichtig. Wer außen am Truck vorbeigeht, kann nicht hineinsehen. Der Wagen setzt sich in Bewegung. Zu eintöniger Lounge-Musik fahren Leinwände herunter. Die Welt draußen wird unsichtbar und durch Filmbilder ersetzt. Zunächst scheinen sie genau die Straße zu zeigen, die der Truck gerade entlang fährt. Doch dann gibt es Irritationen. Wenn der Laster gerade hält, geht die Fahrt im Video weiter - und umgekehrt.
100 Minuten lang ausgeliefert
Außerdem bewegen sich die Leinwände durch die Unebenheiten der Straße. Die Häuser scheinen kurz ineinander zu rutschen, die Atmosphäre bekommt etwas Surreales. Wir sind im Magen des Trucks und ihm 100 Minuten lang ausgeliefert. In einem Theater kann man aufstehen und gehen, hier kommt so schnell keiner raus. Diese Gedanken verfliegen, als die Leinwände zum ersten Mal wieder hochfahren. Wir schauen in den riesigen Lagerraum einer Spedition. Ein dicker Mann bewegt einen Gabelstapler. "Guten Tag. Darf ich mich vorstellen? Ich arbeite für den internationalen Ausschuss 'Deutscher Pavillon auf dem Mond'. Wir wollen diese Spedition auf der Mondausstellung in 20 Jahren. Aber das ist dann eine Installation von einem Künstler." Die Sprecherin ist nicht zu sehen, nur zu hören. Die Künstlerin und Schriftstellerin Mariola Brillowska hat sich anscheinend mit dem dicken Mann im Gabelstapler unterhalten. Das geht aus dem Verlauf des Gespräches hervor. Er sagt, er habe durchaus Lust, mal auf den Mond zu fliegen. Da könne er seinem Bruder beweisen, dass er trotz Korpulenz zu so etwas in der Lage ist.
Das Leben schlägt zurück
Bilder und Ton, Gesehenes und Gehörtes bilden keine Einheit bei "Truck Tracks Ruhr". Die Hörspiele steuern die Blicke auf die Wirklichkeit, geben ihr eine Geschichte oder eine Deutung. Manchmal passiert etwas Unvorhergesehenes, und das Leben schlägt zurück. Der Truck hält auf der Trabrennbahn, die seit zehn Jahren geschlossen ist. "Recklinghausen, Münchhausen, wir sausen, sausen, sausen im Traberschritt und nehmen die Jahre mit. Nur noch die Geister der Wetter, Wettergeister, Wetterleuchten, Geisterleuchten. Abgeschafft. Angeschafft."
Plötzlich biegt ein Pferd um die Ecke, das einen kleinen, zweirädrigen Wagen zieht. Und nicht nur das: Ein Paar geht gerade mit seinen beiden Hunden spazieren. Einer von ihnen, ein Mops, wetzt plötzlich wie besessen auf die Rennbahn, dem Pferd hinterher. Der Text erzählt von Geistern, aber das Publikum blickt ins pure Leben. Zumindest diesmal, am nächsten Tag wird alles anders sein. Der Mops kehrt zurück, die Leinwand kommt wieder runter, die Fahrt geht weiter, zum nächsten Spielort. Solche Irritationen gehören zum Konzept von "Truck Tracks Ruhr". Theaterwissenschaftler können lange Analysen darüber schreiben, wie sich hier die Ebenen von Wirklichkeit und Kunst überlagern. Man kann die Fahrt aber auch einfach genießen, als Augenöffner auf einen Alltag, den so wohl kaum jemand bisher wahrgenommen hat.
Rückenschmerzen und Schweiß - eine Strapaze
Am Hauptbahnhof hören wir den Mailboxbotschaften eines jungen Mannes zu, den seine Freundin verlassen hat. Während viele Menschen auf den Gleisen ihre Handys am Ohr haben. Wie oft bei "Rimini Protokoll" ist die Atmosphäre freundlich, spielerisch, angenehm. Bis der Truck im Freibad ankommt. Die Toneinspielung hier hat Ersan Mondtag gestaltet, einer der Shooting-Stars der Theaterszene, dessen Inszenierung "Tyrannis" beim Berliner Theatertreffen viele Diskussionen auslöste. Das Becken ist menschenleer, nur etwas weiter hinten ziehen einzelne Sportschwimmer ihre Runden. Aus den Lautsprechern tönen die Geräusche ausgelassen spielender Kinder.
Plötzlich feuern Maschinengewehre, entsetzt schreien Menschen, es gibt eine Explosion, viele weinen. Weiterhin sehen wir nur das fast leere Freibad, aber durch die Klänge dringen grauenhafte Bilder in den Kopf. Bilder eines Massakers, eines Terroranschlags, von blutigen, zerfetzten Körpern. Das dauert nur ein paar Minuten, aber die sind kaum auszuhalten. Als die Leinwände wieder hochfahren, der Truck weiter fährt und die Musik einsetzt, atmen alle auf. Nach einer Stunde tut der Rücken weh. Fast alle schwitzen, weil die Klimaanlage laut ist und während der Hörspiele immer ausgeschaltet wird. "Truck Tracks Ruhr" ist schon eine Strapaze; aber eine mehr als lohnende, denn es bleiben viele Sinneseindrücke, die sich erst langsam verarbeiten lassen. Am Ende fährt der Truck vor dem Festspielhaus in Recklinghausen langsam durch die Besucher der Ruhrfestspiele, die auf den Beginn der Abendveranstaltung warten. Dass so was im überregulierten Deutschland mit seinen Sicherheitsvorschriften möglich ist, hätte kaum jemand gedacht. Da hält wohl jeder im Truck die Luft an.