Im März 2014 ist die Maschine MH370 spurlos verschwunden. Das Flugzeugunglück ist Thema eines Theaterstücks über Verlust und Erinnerung

Sie hat sich mit der Theatertruppe Rimini Protokoll als Regisseurin profiliert. Doch für das Stück «All right. Good night», das am Zürcher Theaterspektakel gezeigt wird, ist Helgard Haug eigene Wege gegangen.

By Bernd Noack

24.08.2023 / nzz

Wenn etwas verschwunden ist, ist es nicht mehr da? So einfach ist es nicht. Da ist eine Sache, die das verhindert: die Erinnerung. Und mit ihr bleibt der Verlust spürbar, drängt sich vor, überholt den Ärger darüber, dass man nicht achtsam war. Jetzt ist da eine Leere, eine Lücke im Leben, die sich nicht mehr füllen lässt, eine Narbe vielleicht sogar, die zurückbleibt und schmerzt.

Wenn man sich das Stück «All right. Good night» von Helgard Haug anschaut, das nun am Zürcher Theaterspektakel zur Aufführung kommt, wird man nebenbei oft an eigene Erlebnisse denken, die mit dem Verschwinden eines geliebten Objekts oder eines Mitmenschen zusammenhängen. Die Ereignisse, von denen das Stück handelt, mögen einem fremd sein; die Emotionen aber, um die es geht, scheinen vertraut.

Das Nichtbegreifen des Verlusts

Haug verknüpft zwei unterschiedliche Begebenheiten und führt sie mit feinem Gespür zusammen: Die grosse Welt greift ins Kleine, und das Intime bekommt eine überragende Dimension. Im März 2014 war das Passagierflugzeug MH370 auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking plötzlich nicht mehr sichtbar auf dem Radar, die Maschine mit 239 Passagieren an Bord war auf immer verlorengegangen. Zur gleichen Zeit aber verschwand auf seine Weise auch Haugs Vater: durch Demenz. Das Gedächtnis setzte aus, sein Lebenswille versank in einem Meer der Verwirrung.

Spröde ist das vielleicht zu nennen, wenn in knapp drei Stunden der Aufführung nur die Live-Musik von Barbara Morgenstern zu hören ist, die mit ihrem Orchester auf der Bühne den Gefühlen nachspürt, während die Texte auf einem durchsichtigen Vorhang gelesen werden müssen. Keine inszenierte Katastrophenstimmung, keine sentimentalen Abschiedsszenen. Am Ende stehen wir vor einem Nichts. Was bleibt, sind Fragen nach dem Sinn des Todes und das Nichtbegreifen der Verluste.

Helgard Haug hat ihr erfolgreiches Stück «All right. Good night», das auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, gerade zu einem Roman umgearbeitet (Rowohlt-Verlag). Da wird noch intensiver den seltsamen Wechselwirkungen nachgegangen. Es ist eine Chronik angekündigter und unerwarteter Ereignisse in knappen protokollarischen Sätzen – unterbrochen von den Gedanken, dem Erschrecken, dem Hoffen der Autorin, ihrem Scheitern an der unabänderlichen Wirklichkeit.

«Wie bekommen wir ein Gefühl für die Dimension des Verschwindens?», fragt sie einmal und muss sich später damit zufriedengeben, dass die Person des noch lebenden und unendlich entfernten Vaters wie auch die nie gefundenen Passagiere der abgestürzten Maschine «in einer Zweideutigkeit verschwunden» sind, in einem «Vielleicht-Raum».

Helgard Haug ist Mitbegründerin des Theaterkollektivs Rimini Protokoll, das mit seinen dokumentarischen Inszenierungen seit Jahren einzigartig dasteht in der deutschsprachigen Bühnenlandschaft. Mit «All right. Good night» ist sie einen eigenen Weg gegangen, weil das Thema sehr tief in ihr Leben eingreift. Eine Abkehr vom Kollektiv solle das nicht bedeuten, sagt sie im Gespräch: «Das ist kein Ausstieg, ich arbeite auch weiter im Team mit meinen beiden Kollegen.»

Von Anfang an sollte Rimini Protokoll wie eine Art Dachkonstruktion funktionieren, die verschiedene Projekte und Solo-Arbeiten ermöglicht. Und doch folgte nun gleich noch ein Alleingang von Helgard Haug – bei den Salzburger Festspielen. Zusammen mit dem in Zürich beheimateten Theater Hora, einer professionellen Gruppe von Schauspielern mit Behinderung, hat die Regisseurin eine eigenwillige Interpretation von Bertolt Brechts «Der kaukasische Kreidekreis» erarbeitet. In hundert Jahren Salzburger Festival-Geschichte ist es das erste Mal, dass mit Hora eine inklusive Truppe auf den heiligen Elite-Brettern steht.

Die Kompanie spielt Brecht in Bruchstücken und erzählt dabei doch stets von sich selber. Das sind anrührende und urkomische Szenen, improvisierte Momente der reinen Spielfreude. Der Schweizer Dialekt bleibt in Salzburg manchen zwar unverständlich. Dafür aber drücken die Schauspieler umso mehr durch ihre unkomplizierte Präsenz aus. Sie kommen einem nahe mit ihren eigenen Geschichten und verlangen vom Publikum eine Haltung. Es hätte alles auch ganz anders sein können, wenn man sich vor ihrer Geburt gegen sie entschieden hätte.

Der «Kreidekreis» und «All right. Good night» zeigen, dass Theater für Helgard Haug erst dringlich ist, wenn das Persönliche aller Beteiligten einfliesst – ohne pädagogische oder gefühlsduselige Anbiederung, allerdings. So wird ein Stück belebt – egal, ob es sich um einen klassischen, starren Text handelt oder um eine aus eigenen Erfahrungen und Improvisationen entwickelte Arbeit. Es ist bei ihr, als wüsste man (und auch sie selber) am Anfang noch nicht, worauf die Sache hinausläuft: Schritt für Schritt geht die Erzählung voran, schlägt dabei Kapriolen, führt auf falsche Fährten, findet zurück zu einer Logik und stolpert gleich wieder hinein ins Ungewisse.

Und auch wenn man bei «All right. Good night» natürlich ahnt, wie traurig und tragisch es endet, sind da immer wieder Funken der Hoffnung, ist da ein Drang, nicht aufzugeben. Der Verwandte von Passagieren, die in der Unglücksmaschine sassen, schreibt noch Jahre nach dem Absturz regelmässig SMS an die Nummer des Handys, das wohl stumm am Meeresboden liegt.

Und die Tochter registriert jede Nuance im verlöschenden Wesen des dementen Vaters, holt Bilder der Vergangenheit hervor, begleitet zärtlich den kranken Mann und akzeptiert endlich den Prozess, der, das weiss sie wohl, allein die langsame, grausame Auslöschung vorsieht. «Ich fliege . . .», sind die letzten Worte des Romans. Da hat sie das alte Foto vor Augen, auf dem der Vater die kleine Helgard fröhlich in die Luft hält – mit sicheren Händen.


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All right. Good night.