By Hendrik Werner
22.08.2019 / www.weser-kurier.de
Auf der Bühne sitzt, in einem Sessel, eine Puppe, die vielleicht ein Mensch ist. Sie ist gekleidet wie ein Angestellter oder ein Arbeiter am Feiertag. Das Gesicht ist fast ohne Ausdruck. Beim Sprechen, das erst mehr einem leisen Aufstöhnen ähnelt als artikulierter Rede, bewegt sich der merkwürdig schmale Mund beinahe unmerklich – und nicht immer synchron zu den Lauten, die sich der eigentümlichen Kreatur entringen.
Die Puppe, die vielleicht ein Mensch ist, betrachtet ihre Hände und bewegt gelegentlich ihren rechten Arm. Die Beine sind – zunächst – regungslos; der Mensch, der vielleicht eine Puppe ist, hat das rechte über das linke geschlagen. Zur Beglaubigung ihrer – angeblichen – Gegenwart in diesem seltsam ort- und trostlos wirkenden Setting führt die – mutmaßliche – Bühnenfigur dem Publikum mithilfe eines Laptops und einer Leinwand eine Fotografie vor, die einen – vorgeblichen – Schüler zeigt, der – vermeintlich – ein jüngeres Abbild jenes Menschen ist, bei dem es sich – womöglich – um eine Puppe handelt, die Zuschauern das Fürchten lehren kann.
Zuhauf Zweifelsfälle zeigt Regisseur Stefan Kaegi in dem ebenso spannenden wie staunenswerten Stück „Uncanny Valley“, einem postdramatischen Höhepunkt des Internationalen Sommerfestivals Kampnagel. Es fügt sich trefflich, dass das Areal zu einer vormaligen Maschinenfabrik in Hamburg-Winterhude gehört, die 1865 gegründet und 1982 in den Dienst darstellender Kunst gestellt wurde. Der englische Stücktitel ist Programm. Er bezeichnet im Jargon japanischer Robotiker beklemmende Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Maschine. Auch an Sigmund Freuds horrende Kategorie des Unheimlichen in Tateinheit mit einem gewissen kalifornischen Hightech-Standort mag man denken. Auch deshalb, weil Silikon bei der Modellierung des Protagonisten dieser erstmals im höheren Norden gezeigten Produktion der Münchner Kammerspiele eine maßgebliche Rolle spielt.
Hiesige Theaterfreunde könnten Kaegis krasse Kunst von dem Performancetrupp Rimini Protokoll kennen, der vor zwei Jahren mit dem kollektiven Audiowalk „Remote Bremen“ zwischen dem Friedhof am Neustädter Buntentorsteinweg und dem Dach der Kunsthalle sozusagen am laufenden Meter für Spektakel sorgte. Auch damals ging es um vertrackte Modalitäten der Unentscheidbarkeit: zwischen menschlicher und Künstlicher Intelligenz, Lebewesen und Maschine, Natürlichkeit und Mechanik, Konditionierung und Programmierung. Unentscheidbarkeiten, die hierzulande literaturgeschichtlich seit Heinrich von Kleists Essay „Über das Marionettentheater“ (1810) und E.T.A. Hoffmanns schwarzromantischer Erzählung „Der Sandmann“ (1816) eine Rolle spielen – und die seit der technikgeschichtlich fortschreitenden Hochzeit von Mensch und Maschine in jüngeren Texten wie Clemens J. Setzs „Bot“ und Ian McEwans „Maschinen wie wir“ eine veritable Renaissance erleben.
Dabei ist die Schwierigkeitsstufe der Differenzierung bei der einstündigen Darbietung von „Uncanny Valley“ signifikant höher einzuordnen als in einem Prosatext. Zum einen, weil szenisch überzeugen muss, was literarisch allenfalls halbwegs glaubhaft zu behaupten ist. Zum anderen, weil es sich bei der Puppe, die eine Menschmaschine oder ein Maschinenmensch ist, ausweislich der Physiognomie, der Kleidung, der Stimme und des intonierten Textes um einen Klon von Thomas Melle handelt. Der Schriftsteller, Jahrgang 1975, laboriert an einer bipolaren Störung, die er ausführlich in dem Text „Die Welt im Rücken“ erörtert und, etwas bündiger, in einem faszinierenden Bühnenmonolog mit zunehmendem Verstörungspotenzial.
„Wenn Sie gekommen sind, um einen Burgschauspieler zu sehen, sind Sie falsch“, sagt der Melle-Avatar. „Aber wenn Sie gekommen sind, um das Authentische zu sehen, dann sind Sie hier auch falsch.“ Und dann sagt er noch: „Es ist mir unheimlich, hier so vor Ihnen zu sitzen und von Ihnen beobachtet zu werden. Und mitzubekommen, dass alles unter Ihren Augen Verschiebungen ausgesetzt ist und etwas anderes bedeutet, wenn ich es jetzt sage, als wenn ich es früher gesagt habe.“ Alle Klarheiten beseitigt?
Es ist ein bedrohliches Solo, das Thomas Melle und Stefan Kaegi, die den dicht gewobenen Text über Identität und Zerreißung gemeinsam erarbeitet haben, dem Androiden auflasten und dem Publikum zumuten. Das liegt zum einen an dem bemitleidenswerten humanoiden Roboter, der sich spreizt und quält sein Stündchen auf der Bühne, um danach nimmer gehört zu werden. Zum anderen changiert der Text derart raffiniert zwischen Doppelgänger-Motivik und Errungenschaften der Informationstechnik, Fremdbestimmung und Selbstermächtigung, Wahrhaftigkeit und Schwindel, dass manchem Zuschauer blümerant zumute sein dürfte. Wie staunende Kinder stehen sie nach dem Schlussapplaus um die Maschine herum. Nicht nur, um deren Bewegungsrepertoire und Servomotorik abzugleichen, sondern um sich zu beruhigen, dass der nächste Schritt der Evolution, die Vermählung von Mensch und Maschine, noch eine Weile auf sich warten lassen dürfte.