By Georg Kasch
29.06.2006 / Freitag
AUS DEM LEBEN BULGARISCHER TRUCKER
Das Publikum ist ein kostbares Gut. Wo sich im LKW sonst Paletten mit Tomaten, Schafskäse oder Motorteilen befinden, verstauen die beiden Trucker Ventzislav und Svetoslav aus Bulgarien an diesem 22. Juni zügig und höflich etwa 50 Menschen. Es ist kühl, die Bänke sind eng und zwingen zur Tuchfühlung mit den Nachbarn. Kurz überprüfen sie, ob die Fracht gut verzurrt ist, dann versiegeln sie den Laderaum und setzen sich ans Steuer. Schon geht es los von Sofia in Bulgarien über Serbien, Kroatien, Slowenien, Italien und die Schweiz nach Berlin in fünf Tagen. Oder auch: vom HAU 2 am Halleschen Ufer quer durch die Hauptstadt und zurück in zwei Stunden. Cargo heißt das rollende Theaterprojekt, das in Basel seine Uraufführung erlebte und nun in Berlin seine Runden dreht. Erdacht hat es Stefan Kaegi, Mitglied des Theaterkollektivs Rimini Protokoll. Das neben Kaegi aus Helgard Haug und Daniel Wetzel bestehende Label hatte bereits im vergangenen Jahr für ihr Projekt Call Cutta die Stadt als Kulisse entdeckt. Damals wurde jeder Gast mit einem Mobiltelefon ausgestattet und ließ sich von einem indischen Callcenteragenten durch Berlin lotsen. Im Projekt Cargo hingegen bleibt die Stadt zunächst eine Schimäre. Denn während man irgendwo durch Kreuzberg zuckelt, sieht man auf Videoprojektionen die bulgarische Landschaft vorbeigleiten. Dazu gibt es landestypische Musik aus den Lautsprechern, Ventzislav singt mit. Über ihre Mikroports erzählen die beiden erfahrenen Trucker aus ihrem Leben, von ihrer Arbeit, ihren Familien. Svetoslav etwa hat seinen sechsjährigen Sohn vor 40 Tagen zum letzten Mal gesehen. Später wird er Fotos von ihm und seiner Frau in die Kamera halten, die in der Fahrerkabine auf die zwei Trucker gerichtet ist. ??Plötzlich hält der Wagen, Ventzislav steigt aus. Hier hebt sich zum ersten Mal die Leinwand, und das Publikum starrt durch ein die gesamte Querwand ausfüllendes Fenster auf einen Teil des Flughafens Tempelhof. Von draußen erklärt der Fahrer, warum er Serbien hasst: weil man bei jeder Polizeikontrolle Bestechungsgelder zahlen muss. 25 Euro werden dafür von der Spedition veranschlagt - was darüber hinausgeht, muss der Fahrer von seinen monatlich 400 bis 500 Euro Lohn zahlen. ??Dann geht es weiter, denn es gilt, die Ware pünktlich abzuliefern. Und so rast der LKW im hohen Tempo auf die Autobahn. Die nächsten Stationen sind eine Raststätte, auf der die beiden über LKW-Marken fachsimpeln, der Berliner Großmarkt, auf dem ein Mitarbeiter das Firmenprinzip erklärt ("Just in time ist, wenn die Hühner aus Dresden heute Mittag noch leben und morgen früh abgepackt in Ihrem Supermarkt liegen.") und der Containerumschlagplatz am Westhafen, auf dem der globale Verkehr erläutert wird. ??Und wieder gewähren die beiden Fahrer Einblick in ihr Leben. Sie erzählen, dass sie einen einsamen Beruf haben. Wenn sie nicht gerade jemandem nach dem Weg fragen, lernen sie in den Ländern, durch die sie fahren, nur andere bulgarische Trucker kennen. Auch die Städte, an deren Ausfahrten sie ständig vorbeirauschen, haben sie nie gesehen. So formt sich bei der unterhaltsamen Fahrt durch Berlin ganz nebenbei ein Lehrstück über die Mechanismen der Globalisierung. Handfestes Beispiel ist die Spedition des Unternehmers Willi Betz, dessen Geschichte als weitere Stimme dramaturgisch geschickt die Fahrt durchzieht. Begonnen hatte er 1945 mit einem ausrangierten Armeelastwagen. Heute ist seine Firma dank der Übernahme des einstigen bulgarischen Staatsbetriebes SOMAT das größte Unternehmen der Branche in Europa und Asien. Natürlich war Bestechung im Spiel, bis 1999 legal und steuerlich absetzbar. Für ihn fahren hauptsächlich Rumänen und Bulgaren - ein Fall von Lohndumping, gegen den die Behörden seit 2003 ermitteln. Dennoch rollen die gelben Betz-Trucks weiter durch Europa. Aber wie sollte man sich darüber empören, wenn einem gleichzeitig bewusst gemacht wird, dass man Teil des Verwertungsprozesses ist und Nutznießer der günstigen Preise? ??Fragen wie diese stellen sich am Rande, auf den zweiten Blick, denn nichts auf dieser Fahrt wirkt plakativ. Die Stimmung im Laderaum ist zumeist aufgeräumt. Man stößt in den Kurven zusammen, kommt sich zwangsläufig näher, lacht, es gibt spontanen Applaus für die auf dem Grat von Realität und Fiktion balancierenden Akteure. Und dann sind da Situationen wie die unerwartet und einsam auf dem Jakob-Kaiser-Platz stehende bulgarische Sängerin oder die Videoprojektion, die über die Wand des Tiergartentunnels irrlichtert, die den Rahmen dieses neuen, reflektierten Dokumentartheaters sprengen. Sie sorgen für die Erfahrung, Ware zu sein und Endnutzer, Beifahrer und Voyeur. ??"Cargo" rollt in Berlin noch bis zum 1. 7., danach in Essen, Avignon, Ljubljana, Warschau und Wien