By Stefan Arndt
10.05.2011 / Hannoveraner Zeitung HAZ
Ausgelotete Geschichte: Stefan Kaegi von der Theatergruppe Rimini Protokoll nimmt eine „Bodenprobe Kasachstan“ im Schauspiel Hannover. Er ist seit Jahrzehnten auf eine solche poetische Art des Dokumentationstheaters spezialisiert.
Der Dicke ist nicht kleinzukriegen. Mit der Souveränität jahrelanger Übung hat der zarte, alte Mann bisher alle Holzscheite mit einem einzigen Axthieb gespalten. Einen für jeden Politiker, der den Lebenslauf von Heinrich Wiebe zu einer schroffen Zickzacklinie auf der Landkarte in der Cumberlandschen Bühne des hannoverschen Schauspiels hat werden lassen. Ein Hieb für Hitler, der erst dafür gesorgt hat, dass Heinrich wieder Heinrich gerufen wurde und nicht länger Andrej, und ihn dann zu einem Feind im eigenen Land gemacht hat. Krachend teilt sich das Holzstück. Ein Hieb für Stalin, der den Deutschrussen nach Kasachstan verbannt hat. Wieder fallen zwei Scheite vom Klotz. Das Gleiche bei Chruschtschow und bei Gorbatschow, die ihre Versprechen nicht gehalten haben. Erst bei Kohl, der Wiebe schließlich die Einreise nach Deutschland ermöglichte und für den der alte Russlanddeutsche ein besonders dickes Holzstück ausgesucht hat, bleibt die Axt stecken.
Was sagt uns das? Eigentlich nichts. Die Zuschauer lachen vergnügt über das kleine Missgeschick, das diese letzte Episode der „Bodenprobe Kasachstan“, eines Theaterprojekts von Stefan Kaegi, beschließt. Es ist das gute Ende eines guten Theaterabends, der immer wieder die Grenzen zwischen echtem Leben und Inszenierung, zwischen Intimität und Weltpolitik überschreitet.
Viel wird dabei erzählt aus dem fernen Kasachstan, das nach düsterer (Nach-)Kriegszeit nun dank seiner reichen Ölvorkommen floriert. Gesagt wird allerdings wenig in den Geschichten der Menschen auf der Bühne, die Schauspieler zu nennen man sich sträubt: Schließlich sind es ihre eigenen Geschichten. Wie bunte Plastikbälle werden immer neue, immer größere Themen ins Spiel geworfen. Heimat und Fremde, China, Atomkraft, Klimawandel. Alles wird angedeutet und mit leichter Hand vermischt, ohne je die freundlich-familiäre Stimmung des Abends zu zerstören. Das Leben als Spiel – hier, im Bällebad des Weltgeschehens, wird’s Ereignis.
Stefan Kaegi von der Theatermachergruppe Rimini Protokoll ist seit Jahrzehnten auf eine solche poetische Art des Dokumentationstheaters spezialisiert. Bei den Theaterformen hat er 2002 die „Sonde Hannover“ gelegt, zwei Jahre später war er bei der Festivalausgabe in Braunschweig zu Gast. Und auch im Schauspiel Hannover waren schon früher Rimini-Protokoll-Stücke zu sehen.
Die Spielfläche der Cumberlandschen Bühne ist mit teergesättigten Läufern ausgelegt: Wege, auf denen die Figuren ihre Lebensläufe nachgehen können. Gerd Baumann, der Ingenieur, der einst in Kasachstan nach Öl gebohrt hat, berichtet mit charmanter Hans-Albers-Tapsigkeit von uralten Gesteinsschichten, vom Bohrdruck und der Gefahr des Blow-outs. Gemächlich trabt er über ein Laufband – in dem langsamen Tempo, mit dem das Öl in den Pipelines fließt. Ein junger, in Deutschland ausgebildeter Kasache, der hier mit Solarzellen handelt, wird später vorrechnen, wie viel Energie das Gehen erbracht hat – wenig.
Kasachstan selbst kommt in den Videos von Chris Kondek auf die Bühne. Man sieht darauf den vereinsamten Bruder von Helene Sinkin, die immer Kosmonautin werden wollte und dann doch nur in Hannover für die kasachische Fluggesellschaft gearbeitet hat. Per Video trifft man auch die wunderbaren Großeltern des Solarverkäufers: ein versöhnlicher Kriegsveteran und seine gut gelaunte Frau, die verspricht, ihrem Enkel auch in Kasachstan die ersehnte große, blonde Ehefrau zu verschaffen – wann immer er dann in die Heimat zurückkehren würde. Glauben tut sie wohl nicht daran. Stattdessen singt sie mit ihren Mann ein Lied für ihren Enkel: ein warmer Gruß aus Kasachstan.
Überhaupt wird viel gesungen. Der alte Heinrich tut es, wenn er sich erinnert, wie er gegen die Langeweile gekämpft hat, damals als er Tankwagen durch die Steppe gelenkt hat. Besonders schön singt Elena Panibratowa, die als Kind den Bürgerkrieg in Tadschikistan erlebt hat, und heute auf Bartresen tanzt. Ihre Geschichten sind so bunt und fremd, dass sie wirken wie aus dem Märchen. Aber dann begrüßt sie ihren Bruder. Der sitzt im Publikum und sagt nach der Vorstellung: Alles sei die Wahrheit.
Und doch war es nur Theater. Oder vielmehr: die wunderbare Welt dazwischen. In ihr kann man von einer fremden Heimat erzählen, ohne folkloristisch zu werden, und auf die großen Problemen der Welt verweisen, ohne mahnend den Finger zu erheben. Die Kunst liegt in der Mischung, in der Collage der Wirklichkeit. Stefan Kaegi ist ein Meister darin.