By Linus Baur
23.06.2007 / Zürcher Oberländer
Gibt es noch jemanden, der Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame» noch nie gesehen hat? Wer erinnert sich nicht lebhaft an die Ankunft der Milliardärin auf dem Bahnhof Güllen, an die von ihr angekündigte spektakuläre Geldspritze mit der schaurigen Mordklausel, an die Begegnung der mondänen Claire mit Ill, dem Geliebten von einst, der sie im Elend sitzen liess und nun mit dem Tod dafür bezahlen muss? Unvergesslich auch das pseudodemokratische Gemeindetribunal, das im Namen der Gerechtigkeit einen Menschen nichts anderem als der nackten Profitgier zum Opfer bringt.
Mit Zeitzeugen von damals
Das am 29. Januar 1956 im Schauspielhaus mit Therese Giehse und Gustav Knuth in den Hauptrollen uraufgeführte Drama gehört weltweit zu den meistgespielten Stücken. Die Aufführung vor 51 Jahren nimmt das Regiekollektiv Rimini-Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel) zum Anlass, mit neun Zeitzeugen das Umfeld der Inszenierung von Oskar Wälterin zu beleuchten. Dazu gehören die damalige Direktionssekretärin Bibi Gessner, der Regieassistent Richard Merz, der Bühnenarbeiter Hans Städeli sowie als Zuschauer die Fernsehmoderatorin Eva Mezger. Dazu der Unternehmer Johannes Baur und der Gymnasiast Kurt Weiss. Hinzu kommen drei Mitglieder des damaligen Kinderchors, Ursula Gähwiler, Hans Graf und Christine Vetter.
Es sind alles bestandene Laien, die ihre persönlichen Erinnerungen an die Zürcher Uraufführung einbringen und ihren Lebensweg bis heute schildern. Das Regisseuren-Trio ermittelt den gesellschaftlichen Standort des Dramas, indem es assoziative Bezüge zu den Biografien der Beteiligten herzustellen versucht. Das gelingt nur beschränkt, weisen die neun Biografien doch kaum Berührungspunkte auf, in denen sich im Privaten die grosse Bedeutung des Dramas spiegelt. Am ehesten gelingt das in der Biografie des Bauunternehmers Johannes Baur, eines passionierten Jägers im Ruhestand, der die Geweihe erledigter Tiere als Erinnerungsstücke sammelt. Ansonsten werden unterschiedliche Erfahrungen geschildert, deren emotionaler Sog zum Stück sich in Grenzen hält. Amüsant ist die Reminiszenz von Hans Graf, der bei seinem USA-Aufenthalt das Woodstock-Konzert besuchte, ohne sich dessen zunächst bewusst zu sein.
Gelungene Reminiszenzen
Mehr überzeugt da das kollektive Gedächtnis an die Uraufführung, das bemerkenswerte und recht unterhaltsame Details zutage fördert. So erinnert sich Bibi Gessner an Stossgebete, die sie himmelwärts schickte, um die berüchtigte Korrekturlust Dürrenmatts zu bremsen. Richard Merz zieht bei der Rekonstruktion der Auftritte seine stenografierten Einträge in den alten Regiebüchern zu Rate und wird dabei von Bühnentechniker Hans Städeli ständig korrigiert. Dieser palavert hemdsärmelig über die Bühnenarbeitercrew und die harten Arbeitsbedingungen von damals. Und Christine Vetter schildert, wie sie und weitere Beteiligte des Kinderchors beim heimlichen Zuschauen der für Kinder verbotenen Aufführung erwischt wurden. Immer wieder wird die unvergessliche Therese Giehse als Claire Zachanassian erwähnt, die die eigenen Erinnerungen an die damalige Uraufführung zu beflügeln scheint.
Gespielt wird auf einer schwarz ausstaffierten Bühne - ein düsterer Erinnerungsraum (Bühnenbild: Simeon Meier). Ständig werden Pappfiguren mit Ausschnitten und den Hauptfiguren der Uraufführung auf die Bühne gezerrt und hinausgekarrt. Aus dem Lautsprecher werden laufend Regieanweisungen durchgegeben, der museale Kontext mit Lichtvorhängen und Videoeinlagen aufgelockert. Die Zeitzeugen schlüpfen in die Rolle der Hauptfiguren und betrachten diese wenig später von aussen. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, ein permanenter Rollentausch, dem das Publikum nicht immer folgen kann. Kinder und Jugendliche spielen die Szene des legendären Gemeindetribunals - ein eindrücklicher Auftritt.
«Der Besuch der alten Dame» versteht sich als Rachekomödie mit Biss und Selbstironie. Claire Zachanassian ist als Milliardärin zurückgekommen und verlangt Rache, um sich Gerechtigkeit zu verschaffen. In der Zürcher Inszenierung wird nicht aus Rache, sondern aus Liebe gemordet. «Ich habe meinen Geliebten gefunden», wird Claire zitiert. Damit soll eine Aura des Wunderbaren und weniger der kollektiven Schuld vermittelt werden. Da wäre mehr zu holen gewesen.
Alles in allem: Der Abend bietet tolle und unterhaltsame Geschichten und Typen, die mit Dürrenmatts Uraufführung vor 51 Jahren verstrickt sind. Das Premierenpublikum bedankte sich am Donnerstagabend mit einem langen, herzlichen Applaus.
Aus Liebe, nicht aus Rache