By Hans-Thies Lehmann
01.01.2007 / Theater der Zeit
Das Rimini-Prinzip hat wieder funktioniert, Theater mit realen Spezialisten des Lebens statt Spezialisten der Rollengestaltung. Die Laien (die meist Könner, Spezialisten ihres eigenen Gebiets sind) stellen ja Movens, Hauptmittel und Attraktion in den Arbeiten von Rimini Protokoll dar, die seit einer Reihe von Jahren „postdramatische Gegenentwürfe zum Schauspiel und seiner Dramenlastigkeit“ realisieren, wie die Homepage mitteilt. Wieder haben sie eigentümliche, hinreichend skurrile Personen aufgetan, jeder auf seine Weise interessant. Da ist eine Übersetzerin Franziska Zwerg, der blinde Christian Spremberg, der Elektroniker Ralph Warnholz, der Jahrelang dem Glücksspiel verfallen war, Ulf Mailänder, ein Ko-Autor der Autobiografie eines berühmten Kreditbetrügers, Jochen Noth, früher maoistischer Aktivist, den es später nach Peking verschlug, Sascha Warnecke, idealistischer Jung-Düsseldorfer, der vor McDonald’s gegen die Ausbeutung der Kinder protestiert, der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski (Sohn des bekannten DDR-Wirtschaftswissenschaftlers Jürgen Kuczynski): Seine Karriere als Wissenschaftler in der DDR wurde durch die Wende beendet, beim Schlussbeifall schwenkt er unverdrossen sein Exemplar des „Kapitals“ (hält buchstäblich daran fest).
Einen der ersten ganz starken Momente des Abends hat der Lette Talivaldis Margevics, der berichten kann, dass seine Mutter in den Nachkriegswirren, in äußerster Verzweiflung und Not auf einem Bahnhof in Polen im Menschengetümmel einen Moment lang wirklich geschwankt hat, ob sie nicht auf das Angebot einer Frau eingehen sollte, ihn – gegen Lebensmittel und mit der Chance, dass er so eher überleben würde – wegzutauschen, ihn gegen materielle Hilfe einer anderen Frau zu übergeben. „Also war ich in meinem Leben schon einmal eine Ware“. Parallel zu dieser Geschichte wird am anderen Ende der Bühne aus der Analyse der Wertform im Kapitalreferiert.
Ein Buch also als Titelheld – ein Buch nur, aber welch ein Buch: es hat – mehr wohl als fast jedes andere – Lebenswirklichkeiten erzeugt, Welt-Realitäten heraufbeschworen. Nun ist es Spielobjekt. Und auf einer ziemlich bunten Bühne. Eine Regalwand, größere Fächer (in einem eine Vase mit roten Nelken, in anderen z.B. Marxbüsten), eine Regalleiter, Hocker inklusive, zieht sich über die Breite der Bühne, rotes und blaues Licht, links ein Spielautomat, wie man ihn in Kneipen findet. Denn der Abend bewegt sich auf einer spannenden Linie von einer noch eher logischen Theorie-Sphäre hinüber in den kuriosen und grotesken alltäglichen Wahnsinn der Geldgesellschaft – Verrücktheit des Spiels, des Zufalls, Verrücktheit des Betrugs, wo ganze Imperien und Riesenvermögen auf Trug und Illusion errichtet werden können. Theater liest. Lesen wird Theater.
Es macht den besonderen Reiz des Abends von Rimini-Protokoll aus, dass theatralisch (und gerade nicht ökonomietheoretisch) über den Tausch, über seine Absurdität nachgedacht wird. Bilder und Szenen fragen nach Abgründen des Tausches nach. Einmal halten der sehfähige Kuczinsky und der geburtsblinde Spremberg jeder ein Exemplar des „Kapital“ in Händen – der Sehende in Blindenschrift, der Blinde eine Ausgabe (Moskau 1932) in „normaler“ Schrift. Sie hat für ihn – keinen „Gebrauchswert“, erläutert der Wirtschaftswissenschaftler, ebenso für ihn selbst das Buch in Blindenschrift. Also – tauschen sie. Das aber ist eben kein Warentausch, der über die Wertgröße reguliert wird – es ist unmittelbar gesellschaftliches, menschliches Tun, in denen die Bücher (Arbeitsprodukte) von beiden eben nicht als Waren behandelt werden, sondern beide ein gemeinsames menschliches Brauchen miteinander vermitteln. Währenddessen wird als Kommentar aus der Wertformanalyse des „Kapital“ zitiert, die im Grunde nicht Analyse der bürgerlichen Ökonomie sein will, sondern Anatomie der konkreten „Verrücktheit“ einer Gesellschaft, in der alles, auch die Lebenstätigkeit des Menschen, auch sein Körper, auch sein Geist, Tauschobjekte werden.
Die Tiefenstruktur des unterhaltsamen, vielleicht beinah ein wenig zu freundlich geratenen, doch starken Eindruck hinterlassenden Abends ist so theoretisch durchaus triftig. Die Marx’sche Lehre will nicht die bessere Beschreibung der kapitalistischen Gesellschaft sein und die Gesetze erläutern, nach denen eine Gesellschaft funktioniert, in der absurderweise die Gesellschaftlichkeit der Menschen erst dadurch sich realisiert, dass ihre Arbeitsprodukte als Ware getauscht werden. Im „System Tausch“ erscheinen wir uns und anderen erst nachträglich, verspätet als soziale Wesen, denn wir agieren nicht „unmittelbar gesellschaftlich“. Unter kapitalistischen Bedingungen wird systematisch „vergessen“, dass alle Arbeit immer schon von Anfang an und im Voraus gesellschaftlich vermittelt ist, unmöglich, sogar undenkbar ist ohne die vorangegangene Arbeit der anderen. Stattdessen erscheint jedes Subjekt als „in sich reflektiertes Einzelinteresse“, beschäftigt mit einer „Privatarbeit“, die sich als gesellschaftliche bewährt erst durch den Tausch, indem sie sich verkauft. Marx legt die Enormität, das Absurde, das buchstäblich „Verrückte“ dieser Form des Verkehrs dar. Genau diesem Impuls des „Kapital“antwortet der skurrile und mit dem Sinn fürs Absurde ausgestattete Humor des Abends.
An einem Punkt des Abends bekommt, während der Wissenschaftler mit quälender philologischer Akribie Editionsprobleme des „Kapital“ erörtert, jeder im Publikum eins in die Hand, hunderte Exemplare des berühmten blauen Band 23 der MEW werden von Helfern verteilt, wir haben alle das „Kapital“ auf dem Schoß, lesen Sätze darin mit (rot angestrichen). Allerdings: Es ist, wie im richtigen Leben, nur geliehen, am Ende muss man es wieder abgeben. Geschenkt wird nichts, wir leben in der Warengesellschaft, die „Das Kapital“ beschreibt. Allerdings wird nun niemand, der den Abend besucht hat, abstreiten, das „Kapital“ von Marx einmal in der Hand gehabt zu haben, sogar darin gelesen...