Fremd blickt uns Locusta an

Fressen und wachsen: Rimini Protokoll untersucht im Hebbel am Ufer das Leben und Sterben der Heuschrecken.

By PATRICK WILDERMANN

03.04.2010 / Tagesspiegel

Bei der Premiere im Hebbel am Ufer hat es 215 Tote gegeben. Einen Abend später sind weitere 130 Verstorbene zu beklagen, und die Vorstellung ist noch längst nicht vorbei. Allerdings, so werden wir beruhigt, liegen diese Zahlen im Rahmen der „natürlichen Mortalität“. Selbst die robustesten Insekten leben halt nicht ewig. Und wenn man ehrlich ist, muss man zugeben: Die Verluste fallen im allgemeinen Gewimmel nicht weiter auf.
„Heuschrecken“ heißt der Abend, den Stefan Kaegi, Mitglied des Dokumentartheater-Kollektivs Rimini Protokoll, als Feldforschungsstudie auf Leben und Tod in einem 60-Quadratmeter-Terrarium eingerichtet hat. Hauptdarsteller sind 6152 Experten des Insektenalltags, afrikanische Wanderheuschrecken, mit Fachnamen: Locusta migratoria. Die Tiere, die aus verschiedenen Zoohandlungen in Berlin und Brandenburg stammen, tummeln sich in einer Canyon-Landschaft unter Scheinwerfern und Kameras. Sie haben einen kleinen Swimmingpool, den sie als wasserscheue Gesellen allerdings meiden. Manchmal hüpfen sie auf eine elektronisch verstärkte Harfe am Boden und machen stockhausenmäßige Heuschreckenmusik.
Fremd blickt man auf die Locusta, fremd blicken sie zurück. Verhaltensforscher sagen, dass Menschen einfach keine Lebewesen ohne Pupillen mögen. Es ist eine elektrisierende, mehrbödige Versuchsanordnung, die nach bester Rimini-Tradition eine Dramatik eigener Art entfaltet. Inklusive Szenen von Sex und Gewalt. Eine Live-Paarung erlebt man, auch einen Akt von Kannibalismus, erschreckend nüchtern kommentiert: „Der einen fehlt ja schon der Unterleib.“
Regisseur Kaegi, der „Heuschrecken“ im vergangenen Herbst in Zürich uraufgeführt hat, ist so etwas wie der Polit-Biologe im Rimini-Verbund. Er hat in der Vergangenheit schon Meerschweinchen eine Europalandkarte aus Gemüse aufessen lassen („Europa tanzt. 48 Stunden Meerschwein Kongress“) und Fragen der Demokratie am Beispiel einer Ameisenpopulation erörtert („Staat. Ein Terrarium“). Auch in „Heuschrecken“ – eine Inszenierung, die sogar im amerikanischen Wissenschafts-Magazin „Science“ bejubelt wurde – geht es um Analogien zwischen Mensch und Tier. Allerdings nicht im Sinne Franz Münteferings, dessen Tirade gegen die Heuschrecken von den Hedge Fonds zum geflügelten Wort wurde.
Nein, hier stehen noch globalere Fragen zur Debatte, und dafür sekundieren, wie bei Rimini Protokoll üblich, verschiedene Fachleute ohne Bühnenerfahrung, deren Biografien im weitesten Sinne mit dem Thema verwoben sind. Diesmal der in Somalia geborene und in der Schweiz ausgebildete Lebensmittel-Chemiker Dr. Zakaria Farah, der Experte in Sachen Migration ist und als Kind selbst Zeuge einer Heuschreckenplage wurde. Die Astrophysikerin und Finanzmathematikerin Barbara Burtscher, deren Ausführungen Fragen der Fragilität unseres Ökosystems berühren. Schließlich der Insektenforscher Dr. Jörg Samietz, der viel Wissenswertes über Körperbau und Schwarmverhalten der Locusta Migratoria zu berichten hat. Kluge Tiere sind es nicht. Sie wollen nur fressen und wachsen, ihr Motto ist: „Live fast, die young.“ Aber wenn die Klimakatastrophe mal ihre volle Wirkung entfaltet, werden sie uns an Hitzeresistenz locker überlegen sein. Und handeln wir etwa klug, wenn wir in Afrika das Koltan-Vorkommen ausbeuten, damit bei uns die Handys funktionieren?
Am Ende steigt Burtscher in einem Nasa-Raumanzug ins Terrarium, und im Raum steht die Frage, ob der Mensch vielleicht eines Tages auf den Mars ausweichen muss, sollten die Ressourcen auf der Erde erschöpft sein. Die „Food and Agriculture Organization“ der Vereinten Nationen, so erfahren wir, hat mit Blick auf den Hunger in den Entwicklungsländern schon vorgeschlagen, Heuschrecken zu verzehren. Kaegis Musiker Bo Wiget aß, davon inspiriert, während der Proben mal sechs frittierte Exemplare. Wie sie geschmeckt haben, lässt der Abend allerdings offen.

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Heuschrecken (Locusts)