By GERALD SIEGMUND
09.02.2002 / Frankfurter Allgemeine Zeitung
Mit dicken Ohrenschützern stehen sie in ihren Boxen auf einem Schießstand, angeleitet von einem Polizisten, der den fünf Jugendlichen, die zum ersten Mal eine richte Waffe in der Hand halten, Tips zur richtigen Technik gibt. Drei Sekunden erscheinen die Scheiben vor ihnen, dann verschwinden sie wieder für zehn Sekunden. In drei Sekunden muß die Kugel den langen Weg bis zur Scheibe zurückgelegt haben. Der Rückstoß der Waffe beim Abdrücken reißt ihre Körper weg, doch Valentin Erni, Thomas Hostetter, Diego Krauss, Ahmed Mehdi und Adrian Seitz, alle im Alter zwischen 13 und 15 Jahren, macht das Schießen Spaß.
Auf der Studiobühne des Frankfurter Mousonturms wird dieser Film auf zwei Luftmatratzen geworfen, die mit weißen Laken bespannt sind. Daneben haben sich die fünf Jugendlichen aufgestellt, um sich beim Schießen selbst zuzuschauen. Sie kommentieren ihre Leistungen, kleben sich gelbe Punkte auf die Kleidung, um ihre Treffer zu markieren. In Formation springen sie rhythmisch eine Vierteldrehung zur Seite wie die wegklappenden Zielscheiben. Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzelmachen in ihrem neuen Projekt „Shooting Bourbaki“ die Welt der Jugendlichen zum Thema und sie selbst zur Zielscheibe. Sie lassen sie als sie selbst in ihrer eigenen Welt agieren, die sie dem Publikum zeigen. Doch gleichzeitig beschreiben sie auch das was sie tun. Jenseits der Illusion kommentieren sich die Ebenen und Mittel der Inszenierung immer auf ebenso intelligente wie unterhaltsame Weise gegenseitig.
Zuvor hatten sich die fünf Jugendlichen hinter den Matratzen verschanzt wie in einem Schützengraben oder sind darauf herumgetollt wie junge Hunde. Später werfen sie sich dagegen, als seien sie selbst die Geschosse, die auf die Zielscheibe einschlagen , welche auf die Matratzenleinwand projiziert wird. Eine Stimme aus dem Off berichtet dabei von der Atemtechnik beim Schießen. Scharf wie Projektile sind die Jungs, denn schließlich geht es in „Shooting Bourbaki“ um Geschosse ganz anderer Art. Um Körperlichkeit und Aggression, um Territorialverhalten und Rangordnung– Phänomene des Heranwachsens, die in Geschichten aus dem Leben der Schweizer und deren Geschichte gespiegelt werden, wie eben jene Geschichte des französischen Generals Bourbaki, der im deutsch-französischen Krieg 1871 die Waffen abgeben mußte, um in der Schweiz Unterschlupf zu finden.
Haug, Kaegi und Wetzel unternehmen in ihren Projekten gezielte Erkundungen in bestimmte Milieus, einer journalistischen Recherche gleich. Für das Luzerner Theater, wo es auch uraufgeführt wurde, nimmt „Shooting Bourbaki“ das Bourbaki-Panorama in Luzern sowie den Schießstand der Polizei auf, der sich unmittelbar neben dem Theater befindet, ein Genius loci, der in der Frankfurter Aufführungsserie des „Knabenschießens“ notgedrungen verloren gehen muß. Das Ziel ihrer Arbeit ist nicht ein wie auch immer gearteter Naturalismus mit Echtheitsanspruch.
Geschickt verschiebt das Trio die Realitätsebenen, lässt Adrian vorne am Mikrophon von seiner Lieblingsgruppe Marilyn Mansonerzählen oder Thomas uns durch das Haus seiner Eltern führen, wo zwei Gewehre im Schrank stehen, bis das Dokumentarische in die Fiktion kippt und die Fiktion real wird. Breitbeinig stehen sie auf der Bühne, machen Schießübungen zu Filmmusik oder bewegen ihre Lippen zu Dialogen aus dem Film „Star Wars“.
Für Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel ist der Alltag der Jugendlichen und damit letztlich auch unser Alltag durchzogen von theatralen Phänomenen. Wen wundert’s, daß das Theater dann zum Ort von Alltäglichem wird, an dem eben jenes Verhältnis von Theater und Leben analysiert wird. Damit leistet die Inszenierung genau das, was das herkömmliche Stadttheater schon längst nicht mehr leistet. Den fünf Jungs jedenfalls macht die Aufführung ebenso viel Spaß wie dem Publikum. (Weitere Vorstellungen: heute sowie am 14., 15. und 16. Februar um 21 Uhr).