By Alexandra Kedves
08.07.2006 / Neue Züricher Zeitung
Oben flogen die Bomber, unten schossen die Kinder. Sie waren 15 oder 16, hiessen Sepp (Ratzinger) oder Robert (Helfert), und sie standen an ihrer Flak. Ihrer deutschen Flugabwehrkanone. Das bedeutete Mund auf, Ohren zu; der Rest war Glück. Oder Gott. Oder die Gestirne – wie damals, 1634, beim Feldhernn Wallenstein. – Oben versprühte man Agent Orange, unten verspritze man Blut. Und die amerikanische Regierung erfand dafür die Gründe, die irgendwann kein Soldat mehr glaubte. Auch die braven Befehlsempfänger Dave Blalock und Darnell Summers nicht. Selbst die getreuen Pappenheimer wandten sich irgendwann von ihrem Feldherrn Wallenstein ab. – Oben tafelte Hitler, unten trompetete das Volk «Lieber Führer, komm heraus aus dem Elefantenhaus». Später bediente der Oberkellner Wolfgang Brendel im Weimarer Edelhotel Elephant Ceauçescu; früher fand sich dort «Wallenstein»-Dramatiker Schiller ein...
Wo Helgard Haug und Daniel Wetzel, zwei Schauspiel-Sprengmeister von Rimini Protokoll, die Lunte legen, fliegen Welt und Theater durch die Luft – und landen, nicht selten, glücklich auf der Bühne. Wie zum Beispiel am Donnerstag in der Schiffbauhalle 1. Dort gastiert die vier Jahre junge, deutsch-schweizerische Theaterformation Rimini Protokoll im Rahmen der Zürcher Festspiele mit ihrem gefeierten «Wallenstein».-Projekt. Und wenn sie dabei von «einer dokumentarischen Inszenierung» spricht, dann meint sie keineswegs eine Collage aus dem Zettelkasten des Dreissigjährigen Krieges. Sondern sie holt sich Live-Geschichten, Live-Auftritte zu den Theman der Schillerschen Dramentrilogie (1799) auf die Bretter. Macht und Ohnmacht, Krieg und Waffenstillstand, Glaube und Ernüchterung und, vor allem, Treue und Verrat: Das alles gibt’s im grunde überall, erzählen uns die Fachleute des alltäglichen Lebens, die Rimini Protokoll für diese Produktion aus dem Privatleben ins Rampenlicht ziehen: zwei Vietnamkriegsveteranen, drei andere Ehemalige (Oberkellner, Flakhelfer, Zeitsoldat), einen Lokalpolitiker, einen Polizeichef, einen Elektromeister, eine Astrologin und eine (Sex-)Partner-Vermittlerin. Aus den Strassen von Mannheim und Weimar – von zwei Theaterhäusern dieser Städte wurde die Produktion 2005 finanziert – wurde ein «Wallenstein»-Ensemble gefischt. Anderswo schwimmt es noch herum. – Bei Rimini Protokoll spielen diese Ottonormalverbraucher denn auch alle sich selbst. Währenddessen werden auf einer Leinwand ab und an «Wallenstein»-Regieanweisungen eingeblendet und manchmal Mitschnitte aus neuen Interviews, beispielsweise mit einem Entscheidungstheorie-Experten, oder aus alten Wochenschauen. Der Zeitsoldat berichtet von schaurigen Minensuchübungen, der Polizeichef von politischer und privater Verfolgung in der einstigen DDR. Die Astrologin baut Horoskope und sei Seitensprung-Agentur-Besitzerin Kontakte; sie führt während laufender Vorstellung Geschäftsgespräche. Authentischer geht’s nicht: Derweil da und dort «Wallenstein» zitiert wird, organisiert Frau Mischereit Stelldicheins mit zögerlichen Lothars (seine Frau ist grad in den Ferien) und schüchternen Gabrieles (schon so lang allein).
Aber wer hat gesagt, dass solcherlei «Authentizität» des Theaters Rettung sei? Im Gegenteil, dieser arrangierte Verrat auf der Bühne ist ungeplanter Verrat – an der Bühne. Und Verrat trennt alle Bande, wusste Schiller. Auch die zum Publikum. Denn schnell stört das Geplänkel das, was an diesem «Wallenstein» unnachahmlich ist: die buchstäblich lebendige Erinnerung an die Schrecken der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist zwar nicht «authentisch», wenn einer zum zwanzigsten Mal vor großem Publikum im Album seiner Albträume blättert, wie es etwa die Soldaten an diesem Abend tun. Aber so, wie es hier passiert, fern von allen Talkshow-Tremoli, ist es bestürzend und bewegend. Bravourös.