Festspielen: Das Publikum schaut sich selbst zu

"Spiegelneuronen" von Stefan Kaegi und Sasha Waltz in der Szene Salzburg ist ein Mitmachtheater, das gänzlich im Zuschauerraum stattfindet

By Margarete Affenzeller

15.08.2024 / Der Standard

Zu Beginn heben sich vereinzelt ein paar Hände, aber schon bald hat sich der Mitmachesprit über das Publikum von Spiegelneuronen bei den Salzburger Festspielen ausgebreitet. Sodass am Ende die Zuschauertribüne in der Szene Salzburg richtig vibriert, weil alle zu Creep von Radiohead shaken. Die von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) gemeinsam mit der Compagnie Sasha Waltz & Guests entwickelte Arbeit unternimmt einen radikalen Schritt, der einen aktuellen Gedanken am Theater nachvollzieht: Das Publikum soll Akteur sein.

In Spiegelneuronen bleibt die Bühnenfläche hinter der Rampe also komplett ungenützt. Alles spielt sich im Auditorium ab, wo das Publikum vor einer portalgroßen Spiegelfläche auf sich selbst blickt. Wer sind wir als Masse? Wer als Individuum? Und wie verhalten wir uns in dieser Situation der Selbstbetrachtung?

Ein halbes Dutzend Wissenschafter und Wissenschafterinnen aus den Disziplinen Neurologie, Soziologie und Künstliche Intelligenz (KI), darunter auch Kulturwissenschafterin Christina von Braun und Hirnforscher John-Dylan Haynes von der Charité in Berlin, wurden zurate gezogen. Ihre O-Töne bilden zusammen mit Musik von Tobias Koch die Tonspur des erfrischenden, neunzigminütigen Abends.

Bewegte Masse

Was im ersten Anschein etwas simpel wirkt, zielt dann auf eine zentrale Frage unserer Tage ab: Wovon wird eine Masse bewegt? Und wie funktioniert dabei die Ansteckung? Konkreter gefragt: Welche Auswirkungen haben soziale Medien auf die Demokratie? Und leben wir nicht längst in einer "Emokratie", einer von Emotionen gesteuerten Demokratie?

Spiegelneuronen verbindet nun die theoretische Ebene des Sozialverhaltens mit einer performativen. Die häppchenweise eingespielten O-Töne der Fachleute bilden dabei das Unterfutter. Die Rede ist von der Disziplinierung des Körpers oder vom in uns gespeicherten Überlebenstrieb des Dazugehören-Wollens. Auch von Einsamkeit: "Sie hängt nicht von der Anzahl der Menschen ab, denen wir täglich begegnen", heißt es einmal.

Natürlich gibt es in dieser Aufführung auch die, die nicht mitmachen, die die Masse, in der sie dank einer Eintrittskarte selbst zu sitzen gekommen sind, nur skeptisch beobachten. Dazu die Stimme von Christina von Braun: "Skeptizismus ist eine gesunde Sache (...) und politisch sehr wichtig." Irgendwann aber reißt es auch hartnäckige Sesselkleber mit, und es werden Hände geschwungen oder rhythmisch Synchronbewegungen ausgeführt. Manche wagen sich in den Bereich der Solo-Performance vor.

Handylichter leuchten

Spätestens jetzt wird deutlich, dass Ensemblemitglieder der Tanzcompagnie Sasha Waltz im Publikum verteilt sitzen. Und auch sonst arbeitet das Konzept von Stefan Kaegi und Dramaturgin Silke Bake mit subtilen Animationen: Der mal flatternde, mal hüpfende Rhythmus der Musik gibt Ansporn zum Winke-Winke und steigert sich bis zum richtigen Dancefloor-Wummerbeat. Auch Handylichter schwingen mit.

Manchmal wird die Spiegelfläche matt und lässt alle zum "Ornament der Masse" (Siegfried Kracauer) werden. Dann wieder blickt das Publikum auf computergrafische Projektionen von Gehirnen und Körperteilen, die wie animierte Röntgenbilder wirken (toll!). Sie illustrieren das organische Geflecht, das wir Menschen von unseren kleinsten Zellen samt elektrochemischen Vorgängen aus bis hinein in große Personengruppen abgeben.

Spiegelneuronen fasziniert in seiner interaktiven Experimentierfreudigkeit, die auf ganzer Linie funktioniert hat. Das Salzburger Publikum war ganz und gar nicht träge. 


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