By Elena Witzeck
07.04.2019 / Frankfurter Allgemeine
Fast sieht es aus, als folge nach dem Ende erst die eigentliche Attraktion, so dicht sitzen nach zwei Stunden in der Kaserne Basel noch immer die Zuschauer und warten auf das Gespräch mit den Darstellern. Eine Tür weiter, unweit der Bar, reimt ein Rapper passend, nur anders, auf Schweizerdeutsch zum Thema Heimat. Drinnen wollen die, die Spanisch können, auch Spanisch reden, und die, die schon in Kuba waren, die sich an die salzige Brise auf Havannas Seepromenade Malecón erinnern, wissen: Wie war das nun mit der Zensur? Im Saal schwebt die Hoffnung, die jungen Kubaner könnten jetzt, nach dem offiziellen Teil, frei sprechen. „Ja, es gibt Zensur“, erwidert der Dramaturgieassistent Ricardo Sarmiento sachlich. „Aber wir zeigen hier nicht politische Geschichte, sondern die unserer Großeltern.“
Wie auf einer Theaterbühne im Ausland eine Heimat beschreiben, die Oppositionelle einsperrt? Wie die Grenzen eines Lebens aufzeigen, in das man irgendwann, am Ende der Spielzeit, zurückkehren möchte, vor einem Publikum, das mit einiger Verklärung darauf blickt?
Eigentlich sollte bei dem Projekt „Granma. Posaunen aus Havanna“ sechzig Jahre nach der kubanischen Revolution die Generation der Zeitzeugen zu Wort kommen. Eine Theatergruppe aus Havanna, das „Laboratorio Escénico de Experimentación Social“, wandte sich 2016 mit der Idee an das Berliner Theaterkollektiv Rimini Protokoll. Dokumentarisches auf die Bühne zu bringen, wie es der Regisseur Stefan Kaegi bereits in vielen Ländern getan hat, ist in Kuba schwierig. Die etablierten Theater sind staatliche Häuser, und unabhängigen Projekten fehlt die Förderung. Jede Probe muss genehmigt werden, selbst für private Aufführungen sind staatliche Kontrollen vorgesehen. Kaegi sagte zu. Ein Jahr lang entwickelte die Gruppe, zu der auch Aljoscha Begrich und die Kubanerin Yohayna Hernández González, Dramaturgen am Gorki-Theater, gehören, das Projekt in Havanna. Als das Dach des Hauses, in dem sie probten, einstürzte, suchten sie ein neues Domizil.
Aber so, wie das Stück angelegt war, wären die Jungen, die im staatlichen Theater Kubas ohnehin kaum Platz finden, ohne Sprache geblieben. Den Diskurs hätte wiederum die „historische Generation“ bestimmt. Also beschloss man, die jungen Kubaner – Laien, wie es bei Rimini-Projekten üblich ist – von ihren Großeltern und deren Rolle während der Revolution erzählen zu lassen. Der Blick der Gegenwart sollte als Filter dienen.
„Du musst studieren, weil du schwarz bist“, sagte Milagros Großmutter zu ihr, als sie ein Kind war. Wenn sie damit fertig ist, wird sie als Historikerin umgerechnet sechzehn Dollar im Monat verdienen, so viel wie ein Touristenführer in Havannas Altstadt. Christians Großvater war sein halbes Leben lang Pilot in der Armee. Diana ist wie ihr Großvater Musikerin geworden. Und Daniel, der Enkel des Revolutionspolitikers Faustino Pérez, macht Animationsfilme, von denen er nicht leben kann. Aber im Theater projiziert er seine Figuren auf die Leinwand und spielt mit ihnen die Entfremdung seines Großvaters von Castros Regierung nach.
Diese vier Familiengeschichten sind das Gerüst für einen Streifzug durch die Geschichte der kubanischen Revolution, vom Anlanden der Luxusyacht „Granma“ mit 82 Revolutionären in einem Mangrovensumpf im Jahr 1956 über die Enteignung der Großbürger, die sich für die Kubaner nach Gerechtigkeit anfühlte, bis zur Hinrichtung des korrupten Generals Ochoa, die sie verstörte. Die Enkel holen ihre Großeltern in aufgezeichneten Videointerviews nach Basel, spazieren durch das Villenviertel, in dem Daniels Familie und die Generäle wohnten. Für diejenigen, die kein Spanisch können, rasen die Untertitel über die Leinwand, eine Jahreszahl jagt die andere, und nach jeder Exkursion im Seminarvortragsstil tritt, wie erhofft, die Posaunistin Diana dazwischen und bringt ihre drei eifrigen Schüler, denen sie die Grundlagen während der Proben beigebracht hat, zum Spielen.
Dort, wo sich die Meinungen teilen, wo Platz für Zweifel ist, wird die historische Suche lebendig. Daniel, der Enkel des einflussreichen Politikers, spricht von „Enteignung“, Milagro, Enkelin einer Näherin, von „Nationalisierung“. Für eine Revolution, die dafür gesorgt hat, dass man studieren darf, muss man dankbar sein – oder nicht? Und Kubas Militäreinsatz in Angola, für den Christians Großvater Jahre seines Lebens opferte, war er ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit der schwarzen Bevölkerung? Oder nur ein Zwangsdienst für Russland, so wie es der Enkel sieht? Daniel fragt: „Wie viel vom Willen meiner Großeltern hat meine Generation für ihre eigene Revolution geerbt?“ Es ist ein Weg, Kritik im Detail zu üben, Ideologien zu hinterfragen, ohne sich die Rückkehr zu verwehren.
Dennoch ist es kompliziert mit dem europäischem Publikum. „Sehr sensibel“, sagt Daniel, reagiere man als Darsteller seiner selbst, wenn man die Grenzen der Wahrnehmung teste und die Zuschauer anders reagierten als vermutet: Warum wird so viel gelacht, etwa über den aus der Not zum Flüchtlingsboot umfunktionierten Laster, über die Treue der Kubaner zur Revolution und die Untreue zu ihren Frauen, über rassistische Klischees? Nach der Premiere im Gorki Theater haben sie sich noch einmal an das Stück gesetzt und einige ihrer Punkte präzisiert, bevor das Projekt auf Tour durch Europa geht.
Es gehört zum Prinzip des Rimini-Projekts, dass auch immer ein didaktischer Anspruch mitschwingt. Ist die Ungleichheit, von der berichtet wird, nicht auch ein Schweizer Problem, fragen die vier jungen Kubaner in Basel. Wäre beim Thema Wohnungsnot nicht das kubanische System der zugeteilten Häuser, die im Besitz des Staates bleiben, eine Lösung? Und über das bedingungslose Grundeinkommen, sagt Riccardo Sarmiento mit einem feinen Lächeln, könne man doch auch in Deutschland noch einmal nachdenken.