By Eckhard Fuhr
23.09.2007 / Die Welt
Dreißig Jahre danach: Das Schauspiel Stuttgart begann am Wochenende die neue Spielzeit mit vier Uraufführungen zum Thema "Deutscher Herbst". Der Zuschauer bekommt viel zu sehen – aber wenig Aufregendes und wenig Neues.
Das Theater ist eine bewaffnete Einheit. Für die Waffen im Fundus ist der Rüstmeister verantwortlich. In Stuttgart versieht Rolf Otto diesen Posten. Jetzt steht er in einem grauen Hausmeisterkittel auf der Bühne, vor sich einen Tisch mit alten Kladden und vier Aktenordnern. In den Kladden sind penibel alle Theater-Waffeneinsätze verzeichnet. Das ist Vorschrift. Trotzdem kann es vorkommen, dass eine Waffe verschwindet.
1975 tauchte eine Pistole aus dem Stuttgarter Fundus bei dem Überfall der RAF auf die deutsche Botschaft in Stockholm auf. Mit Claus Peymann hat das allerdings nichts zu tun, weiß Otto. Die Pistole war schon verschwunden, bevor er als Intendant nach Stuttgart kam. Seit aber Peymann auf einem Zettel an einem internen Mitteilungsbrett um Zahnheilspenden für die in Stuttgart-Stammheim inhaftierte Gudrun Ensslin gebeten hatte, galt er manchen als Oberhaupt einer kriminellen Vereinigung namens Schauspiel Stuttgart.
Drohbriefe an Peymann
Als der „Deutsche Herbst“ mit der Entführung der „Landshut“, der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und dem Selbstmord der Stammheimer RAF-Häftlinge seinen blutigen Höhepunkt erreichte, erhielt Peymann rund 600 Schmäh- und Drohbriefe. Sie sind in jenen vier Aktenordnern des Baden-Württembergischen Landesarchivs gesammelt, die auf dem Tisch des Rüstmeisters stehen und den archivalischen Ausgangspunkt des Theaterprojekts „Peymannbeschimpfung“ repräsentieren.
Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Regie- und Autorenkollektiv Rimini Protokoll haben allerdings mehr und anderes im Sinn als dokumentarisches Theater. Sie wollen das Theater überhaupt hinter sich lassen und ohne Schauspieler auskommen. Der Rüstmeister wirkt wie ein selbstironisches Zitat der ehrwürdigen Institution. Aus den Briefen liest Peymann von einer großen Videowand herunter, teils belustigt, teils angeekelt ob der ungehemmten Verbalaggression, die manchmal allerdings zu grotesker sprachlicher Hochform aufläuft: „Ihnen gehört die Mistgabel auf den Kopf gearscht, dass die Socken platzen“.
Der Intendant und der Rüstmeister sind bei Rimini Protokoll so etwas wie die letzten Theater-Mohikaner. Die Bühne gehört nämlich dem Turnverein Stammheim. Geboten werden Yoga-Training, HipHop, Jazzdance, Aerobic, Tischtennis und anderes. Die Übungsleiterinnen erzählen davon, was das Gefängnis in der Nachbarschaft für sie bedeutet, welche Erinnerungen sie an den Herbst 1977 haben und welche Fragen ihnen dabei durch den Kopf gehen. Die jungen Sportler gehen ganz in ihren Übungen auf. Auf die Frage nach der moralischen oder politischen Funktion des Theaters, die im Blick auf den Herbst 1977 ja doch irgendwie im Raume steht, geben Helgard Haug und Daniel Wetzel eine brutal einfache Antwort: Sie dispensieren das Theater und überlassen die Bühne den Laien, dem Alltag, der gesellschaftlichen Normalität.
Vier Uraufführungen zum "Deutschen Herbst"
Was kommt dabei heraus? Immerhin die tröstliche Erfahrung, dass der Terrorismus und die Antwort des Staates in den Tiefen der Zivilgesellschaft nichts zerstört haben. Wenn die Leute, die sich da auf der Bühne des Staatstheaters bewegen, ein Spiegel unserer Gesellschaft sind, dann ist diese Gesellschaft Welten entfernt vom Ausnahmezustand. Doch um das zu erkennen, muss man nicht unbedingt ins Theater gehen.
Das Schauspiel Stuttgart begann am Wochenende die neue Spielzeit mit vier Uraufführungen zum Thema „Deutscher Herbst“. In drei Projektwochen wird man sich unter dem Motto „Endstation Stammheim“ bis in den Spätherbst hinein weiter damit befassen. Ein gewaltiges historisches Aufarbeitungsbedürfnis, dem sich das Theater als Ort der Aufklärung und moralische Anstalt zu stellen habe, scheint auf den ersten Blick hinter all dem zu stehen. Der Stuttgarter Auftakt vom Wochenende aber zeigt, dass das Theater sich vor allem mit sich selbst beschäftigt. Der Jahrestag des „Deutschen Herbstes“ ist für Autoren, Regisseure und Schauspieler vor allem ein Anlass zu der Frage: Was machen wir hier überhaupt?
Während bei Rimini Protokoll das Ergebnis einer fröhlichen Kapitulation des Theaters zu besichtigen ist, zelebriert René Pollesch mit „Liebe ist kälter als das Kapital“ ein hochkomisches Spiel, dessen Grundgesetz lautet, alles zu verweigern, „was uns zu Dienstleistern am Thema macht“. Grob gesprochen geht es in dem Stück darum, dass fünf Schauspielerinnen und Schauspieler vorführen, wie an einem Filmset alles schief geht, weil die Hauptdarstellerin sich nicht ohrfeigen lassen will, obwohl es doch zum Beruf des Schauspielers gehört, sich ohrfeigen oder auch erschießen zu lassen. Hauptrequisit ist ein Geldautomat, der aber ausschließlich als Klettergerät benutzt wird, weil ihn niemand bedienen kann. Vom Geldautomaten fallen die Schauspieler dann regelmäßig durch eine Luke, um dann hinter den Kulissen gefilmt zu werden. Außerdem gibt es als Verbindung zwischen dem Filmset auf der Hinter- und dem Theaterraum auf der Vorderbühne eine klemmende Kulissentür. In dieser Szenerie rasen die Schauspieler physisch und intellektuell herum, auf der Suche nach der „Wirklichkeit“ und im Kampf gegen die Forderungen des „Beeindruckungsapparates“ Theater.
Wenig Aufregendes, wenig Neues
Paradoxerweise wächst aus dieser Art von Drama-Verweigerung ansehnliches Theater. Es wird Slapstick geboten, die gute commedia dell'arte kommt zu ihrem Recht, sogar die Parodie eines Ritterspiels huscht vorbei. Nur dass das alles das traditionelle Theater als Agentur gesellschaftlicher Anpassung entlarven soll, das will einem nicht so richtig einleuchten.
In dem Projekt, den „Deutschen Herbst“ auf die Bühne zu bringen, geben Rimini Protokoll und Pollesch auf die Frage, was das Theater soll, die provozierendsten Antworten: Beide kommen zu dem Schluss, dass man der Wirklichkeit im Theater nicht auf die Spur kommt. Pollesch führt das virtuos vor. Rimini Protokoll lässt turnen.
Zwischen beiden Extrempositionen gibt es in Stuttgart natürlich auch das politisch-dokumentarische Theater, das sich von dem Gedanken noch nicht verabschiedet hat, dass man auf der Bühne mit Mitteln des Dramas Wirklichkeitsausschnitte repräsentieren kann. „Mogadischu Fensterplatz“ nach dem Roman von Friedrich Christian Delius über die Entführung der „Landshut“ ist ein Beispiel dafür, wie so etwas gelingen kann. Der Gedankenstrom einer fiktiven Passagierin, den Delius aus penibel recherchierten Einzelheiten komponiert hat, verteilen Regina Wenig und Beate Seidel auf acht Rollen. Die retrospektive Erörterung der Ereignisse und ihre Darstellung auf der Bühne sind ineinander verschränkt. Ganz entgegen Polleschs Credo kommen sowohl die Psychologie als auch die politische Reflexion zu ihrem Recht. „Der Umschluss“, ein Stück über die Binnenwelt im Stammheimer RAF-Trakt, überzeugt dagegen weniger.
Es ist bei den Stuttgarter Stammheim-Projektwochen so ähnlich wie bei einem Arte-Themenabend: Man bekommt viel zu sehen und ist stolz, ihn absolviert zu haben. Aber aufregende neue Gesichtspunkte, gar etwas, was einen selbst verändert, findet man selten.