Eine theatralische Rundreise in Lausanne an Bord eines LKWs

Das Kollektiv Rimini Protokoll und der Regisseur Stefan Kaegi präsentieren „Cargo Congo Lausanne“ im Theater Vidy.

By Fabienne Darge

08.02.2018 / Le Monde

Le Monde

Schnallen sie sich an. In nur zwei Stunden werden sie sechstausend Kilometer hinter sich lassen, von Goma im Kongo nach Lausanne in der Schweiz. Das eingesetzte Transportmittel ist gewiss etwas speziell, schließlich handelt es sich hier um… Theater. Ein weiterer Coup des Kollektivs Rimini Protokoll (/m- actu/article/2014/05/09/trois-questions-a-rimini-protokoll_4413317_4497186.html) und des Schweizer Regisseurs Stefan Kaegi, die seit etwa fünfzehn Jahren eine neue Form des dokumentarischen Theaters immer wieder neu erfinden, spielerisch und immersiv.

Der junge 44-jährige, große und schlaksige Mann hat ein völlig neues räumliches Modell für das Theater erfunden: das Truck-Theater, in dem rund 50 Zuschauer Platz finden, um auf ungewöhnliche Reisen zu gehen - zwischen Realität und Fiktion. Beim Theaterfestival von Avignon 2006, ist der ausgebaute Truck durch Cargo Sofia-Avignon erst entdeckt worden. Bei dem Stück tritt Kaegi in die Fußstapfen zweier bulgarischer Lastwagenfahrer und begibt sich auf die Spuren der Stadt der Päpste, die sich von dem, was die Festivalbesucher sonst so zu sehen bekommen, gewaltig unterscheidet.

Seitdem war der LKW - ein weißer Sattelschlepper, der in einem anderen Leben als Fleischtransporter diente - in der ganzen Welt unterwegs, sogar in Japan. Das Prinzip ist immer das Gleiche: den Zuschauer gleich zwei Mal mit auf die Reise zu nehmen. Eine davon ist real und ganz konkret, meist in den Außenbezirken der Stadt, wo die "Aufführung" auch stattfindet. Die andere, eine eher fiktive Reise, wird von den zwei - echten – LKW-Fahrern übernommen, die jedes Mal auch die Charaktere dieser Cargos sind.

 

Eine außergewöhnliche Darstellung

Die Geschichten sind von Stadt zu Stadt, in der Stefan Kaegis LKW auf Erkundungstour geht, unterschiedlich. Dennoch: über die Jahre hinweg zeichnet sich durch die Verbreitung von Menschen- und Warentransporten ein erstaunliches Bild der Verflechtung unserer globalisierten Welt ab. In Lausanne - wo der Truck bis Ende März herumtuckern wird - hat sich Stefan Kaegi entschieden, das Stück um die Charaktere zweier LKW-Fahrer zu spinnen, die ganz unterschiedliche Biografien haben: Roger Sisonga, in den Dreißigern, kongolesischer Herkunft und bei einer Spedition beschäftigt und Denis Ischer, ein Sechzigjähriger, waschechter Schweizer und Firmeninhaber.

So bauen sich die Inszenierungen von Stefan Kaegi Stück für Stück auf. Er möchte die Reise von Goma nach Lausanne lebendig werden lassen: es geht vorbei an den grünen Hügeln Ruandas, den Fischerdörfern Tansanias und dem Hafen von Dar-es-Salaam, die Überfahrt nach Antwerpen und schließlich die Ankunft in der Schweiz. Und das alles, während man gleichzeitig etwas ganz anderes erlebt: das Umherfahren in einer Welt von Autobahnen, Verkehrsknotenpunkten, Umgehungsstraßen, Garagen, Parkplätzen, freien Flächen und riesigen Lagerhäuser, was nach einer Weile fast schon hypnotisch wirkt.

Sobald sie auf den Sitzreihen des LKWs Platz genommen haben, befinden Sie sich vor einem großen Glasfenster, das auf einer Seite des LKWs mit der ursprünglichen Wand ausgetauscht wurde. Dieses Glasfenster ist sowohl ein Fenster zur Welt, das die von Stefan Kaegi sorgfältig ausgewählte Realität umrahmt, als auch eine Projektionsfläche, die Sie in eine parallele Realität projiziert, nämlich die der durchquerten Länder.

Während dieser zweistündigen Reise ist es ein ständiges Hin- und Her zwischen dem, was Sie "in Wirklichkeit" vor Augen haben und von dem, was Sie auf den bewegten Bildern sehen. Eine einzigartige Erfahrung, gleich einer Ansammlung heutiger Lebensformen: nomadisch, überirdisch, allgegenwärtig, in denen Bilder heutzutage ein integraler Bestandteil der Realität sind.

 

Zwei konträre Lebensgeschichten

Aber was dem Projekt eine menschliche Dimension verleiht, sind die zwei Trucker, die abwechselnd fahren und von ihrer Kabine aus über ihr Leben erzählen. Zwei gegensätzliche Lebensgeschichten, die in ihrer Begegnung und ihren Reibereien  - inzwischen haben die beiden Männer eine sichtbar schöne Freundschaft aufgebaut – viel über unsere heutige Zeit und über die Beziehungen zwischen Afrika und dem Alten Europa aussagen.

Am verworrensten ist die Lebensgeschichte von Roger Sisonga, der mit 13 Jahren im Krieg in Ruanda eingezogen wurde, bevor er überhaupt auswandern konnte, um sich eines Tages in der verschneiten Schweiz wiederzufinden. Die Geschichte von Denis Ischer ist charakteristisch für die Existenz des europäischen Mittelstandes der Nachkriegszeit, von Konflikten und Gewalt verschont und in Wohlstand gebadet.

Aber all das wird nicht sonderlich betont. Stefan Kaegi nähert sich diesen Biographien mit Feingefühl, ohne je zu verurteilen oder dabei in Pathos zu verfallen. Sein Ansatz ist es - ähnlich eines Kartographen, der eine Landkarte erstellt - die unterschiedlichen Lebenslinien nachzuzeichnen und trotzdem dabei poetisch zu bleiben. Genauso wie sein LKW, der zwischen Sozialbauten spazieren fährt, als ob man abends von jenen geheimnisvollen Existenzen träumte, die von diesen Kreaturen gesteuert werden, deren Fenster am nächtlichen Himmel erleuchten.

 

Übersetzt von Lea Reichel


Projects

Cargo Congo-Lausanne