By Linus Baur
26.02.2007 / Der Zürcher Oberländer
Die Regie- und Autorengruppe Rimini-Protokoll lässt seit Jahren Menschen aus dem eigenen Leben erzählen. Ausgangspunkt für diese Erzählungen ist jeweils ein bestimmtes Thema. Diesmal haben sich Rimini-Protokoll (Helgard Haug und Daniel Wetzel) für «Karl Marx: Das Kapital, Erster Band» interessiert. Es entstand eine Inszenierung für das Düsseldorfer Schauspielhaus, die bis 2. März im Zürcher Schiffbau zu sehen ist.
Eine riesige, bunt ausgeleuchtete und frontal zum Publikum gestellte Bücher- und Schrankwand gibt das Bühnenbild. Bücher, Aktenordner, Büsten, ein Kaffeeautomat, ein blinkender Geldspielautomat und vieles mehr sind ohne besondere Sorgfalt hineingepackt worden. Die Menschen sitzen in den Regalen, als wohnten sie da, und lächeln zu leisem Gitarrenbeat. Sie möchten geheimnisvoll sein wie ein ungelesenes Buch.
Acht Menschen - acht Erfahrungen
Thomas Kuczynski, ein Ökonom aus der DDR, der an einer neuen kritischen «Kapital»-Ausgabe arbeitet, schlurft mit einem Einkaufswagen herein. Darin dreizehn grosse Bände «Das Kapital, Erster Band» in Blindenschrift, bestimmt für den blinden Christian Spremberg, der auf einem Plattenspieler alte, biedere Schlager auflegt. Kuczynski kann mit Blinden-Bänden nichts anfangen, Spremberg nichts mit seinem Original im blauen Wälzer. Der Tausch vermittelt eine erste Lektion über Wert, Gebrauchswert. Spremberg, jetzt in einem Call-Center tätig, hat sich schon mehrfach bei Günther Jauchs «Wer wird Millionär?» beworben, bislang vergeblich.
Die weiteren Akteure sind: der Elektroniker Ralph Warnholz, der lange Jahre im Rausch des Glücksspiels lebte und heute eine Selbsthilfegruppe für Spieler leitet; Jochen Noth, Mitbegründer des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands, der mehrfach Geldnoten vor Passanten verbrannte und zum Management-Trainer für asiatische Unternehmen wurde; der lettische Filmemacher Talivaldis Margevics, der, übersetzt von der Dolmetscherin Franziska Zwerg, vom Rückweg in die Sowjetunion erzählt, bei der eine polnische Frau ihn, für viele Lebensmittel, seiner Mutter abkaufen wollte. Die Mutter blieb standhaft. Und da sind noch Sascha War- necke im Che-Guevara-Shirt, ein bekennender Revolutionär, der einen Cola- Becher vor einer McDonald's-Filiale ausleert, und der Biograf Ulf Mailänder, der die Geschichte des Hochstaplers Jürgen Harksen erzählt, der in den neunziger Jahren 300 Millionen DM von profitgläubigen Möchtegernkapitalisten abgezockt und verprasst hat.
Experten, nicht Laien
Es ist ein Abend der Dilettanten, die sich preisgeben, die etwas sehr Besonderes zu erzählen haben, das in Verbindung mit dem Text steht. Deshalb nennt Rimini sie Experten, nicht Laien. Sie sollen nicht schauspielern, sondern ihre Erfahrung mit dem Buch «Das Kapital» auf die Bühne bringen. Und so wird ein bisschen zu viel und unverbindlich palavert. Das Flächige der Monologe wird nicht ins Dramatische gesteigert, der emotionale Sog hält sich in Grenzen. Die Marx'sche Analyse des Kapitalismus kommt zu kurz. Da wäre mehr zu holen gewesen.
Nackte Wahrheit übers Heute
Trotzdem: Der Abend bietet tolle Geschichten und Typen, die in die Kreisläufe des Geldes verstrickt werden. Die meisten Geschichten sind humorvoll und pointenreich, liefern biografische Erlebnisse mit mehr oder minder packenden Analysen und Begriffen des «Kapitals». Gelungen ist der Einfall, das Buch «Kapital» in alle Sitzreihen zu verteilen. Kuczynski - mitunter eine Art wissenschaftlicher Moderator - liest daraus. Verblüffender, nackter kann Wahrheit übers Heute nicht gesagt werden.