By Bettina Schulte
07.05.2016 / Badische Zeitung
Rimini Protokoll mit "Evros Walk Water" beim Internationalen Festival Freiburg
Vierundzwanzig Zuschauer, die sich im Freiburger Theater im Marienbad verlieren: Mehr sind pro Vorstellung nicht zugelassen. Zuschauer ist die falsche Bezeichnung. Die Zuschauer sind Teil der Inszenierung, denn diejenigen, die eigentlich auf der Bühne stehen sollten, können dort nicht sein, weil sie nicht ausreisen dürfen. Es handelt sich um 15 Jungen im Alter von zwölf bis 17, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, wie sie im Beamtendeutsch heißen, die in einem Haus in Athen untergekommen sind. Dort hat sie Daniel Wetzel, einer der drei Mitglieder von Rimini Protokoll, ausfindig gemacht und mit fünf von ihnen das Projekt "Evros Walk Water" auf die Beine gestellt, das jetzt beim Festival Tanz und Theater zu sehen ist.
Die Stimmen der Jungen sind nicht an den Ort gebunden. Sie werden über Kopfhörer eingespielt, die – das ist wichtig – gleichzeitig die Raumgeräusche übertragen. Denn Evros Walk Water ist nicht nur das vielstimmige Protokoll von Flucht- und Überlebensgeschichten, sondern zugleich eine Re-Inszenierung von John Cages Performance "Walter Walk", die der Komponist 1960 in einer populären amerikanischen Fernsehshow zeigen konnte: eine Sternstunde des Clashs zwischen E- und U-Kultur. Der Clip, der zur Einstimmung gezeigt wird, ist wirklich sehr amüsant: Man sieht den damals noch ziemlich jungen Künstler mit allerhand tönenden Alltagsgegenständen hantieren, eine Vase mit Blumen in eine Badewanne stellen, diese begießen, einen Mixer anstellen, einen Dampfkochtopf zischen, eine Plastikente quietschen lassen und so weiter: Aktionskunst im Sinne von Fluxus, des nach Dada zweiten Angriffs auf das bürgerliche Kunstwerk – und eine ideale Folie für das im Herbst 2015 uraufgeführte Projekt mit über das Wasser geflüchteten Teenagern.
Diese geben ihren Stellvertretern während der 60-minütigen Performance präzise Befehle, um das Cage-Stück nachzustellen. In der Mitte der Installation ruht anstelle der Badewanne symbolschwer ein Schlauchboot, dessen Kontext allerdings durch allerlei Unsinn à la Cage unterminiert wird. Man darf kleine Plastikfische hineinwerfen, einen in Schwingung gebrachten Gong hineintauchen und natürlich die obligate Blumenvase hineinstellen. An anderen Plätzen warten Bierflaschen, eine orientalische Zither, ein Modell-Ferrari oder ein Plastik--Maschinengewehr auf Behandlung. Tatsächlich gelingt es der Performance, das damals provokative, heute nur noch spaßige Antikunst-Konzept von Cage mit den autobiografischen Berichten der Jungen so zu mischen, dass sich die erwartbare europäische Betroffenheit durch harte fremde Schicksale nicht einstellen will. Man erlebt die simultan von einem Schweizer Jungen übersetzten Stimmen der Flüchtlinge vor allem als Ausdruck jugendlicher Lebensfreude und Zuversicht; man bekommt die Lieblingsmusik von Abel und den anderen vorgespielt, die ihre Sehnsucht nach der Heimat verkörpert; man erfährt von Streitigkeiten untereinander, von den Hoffnungen und Wünschen normaler Heranwachsender – die nur schon Dinge erlebt haben, von denen der wohlsituierte Europäer nichts ahnt.
Und: Es sind sie, die hier die Anweisungen geben. Sie sind die Protagonisten von "Evros Walk Water". Sie sind abwesend anwesend. Ein Rollentausch, der zu denken gibt.