By Julika Bickel
05.03.2018 / taz
Streng geheime Mission im Museum: Getarnt als gewöhnliche Besucherin bewegt man sich inkognito zwischen der Büste der Nofretete und anderen altägyptischen Kulturschätzen, während man den Geschichten von Geheimdienstmitarbeitern und Whistleblowern über Kopfhörer lauscht und versucht, sich selbst als Geheimagentin zu beweisen. Eine Führung auf einer Großbaustelle: Man trifft InvestorInnen in einem Baucontainer, ein rumänischer Bauarbeiter berichtet von Schwarzarbeit und der ehemalige BER-Entrauchungsplaner Alfredo di Mauro erklärt, die Politik sei an allem schuld. Eine Reise in die Zukunft: Im Jahr 2048 präsentiert die künstliche Intelligenz IRIS den Menschen ein Modell einer digitalen Regierung und lässt sie über sämtliche Fragen via Smartphone abstimmen.
Komplexe Netzwerke
Das sind die Szenarien der ersten drei Inszenierungen des Vierteilers „Staat 1–4“ von Rimini Protokoll, die derzeit im Neuen Museum und im Haus der Kulturen der Welt (HKW) aufgeführt werden. Staat 4, „Weltzustand Davos“, läuft ab Donnerstag. Die partizipativen Inszenierungen fühlen sich an wie Abenteuer und das macht wirklich großen Spaß. Man begibt sich mitten hinein in diese undurchsichtigen, komplexen Netzwerke und Kräfte, die sich der staatlichen Kontrolle entziehen. Durch die Globalisierung und die Digitalisierung haben sich Bereiche wie das Netz von Nachrichtendiensten, Lobbyismus und Big Data aufgetan, die ausschließlich ihren eigenen Regeln folgen. Der Nationalstaat mit seiner Gewaltenteilung hat längst nicht mehr den Einfluss, den er bis 1989 hatte. Die vier Theaterproduktionen bilden eine Bestandsaufnahme der Gegenwart: Wie ernst steht es eigentlich um den Zustand der Demokratie?
Jede Produktion hat passend zum Themenkomplex ihre je eigene Form gefunden. „Top Secret International“ (Staat 1) stellt einen Algorithmus in Form eines Audioguides dar: Eine weibliche und einen männliche Stimme führen durch die Ausstellungsräume, geben Anweisungen – gehe dorthin, suche dir eine Skulptur zum Betrachten, setze dich hierhin, gehe langsam und unauffällig weiter, du bist bereits verdächtig lange im selben Raum – und stellt einen immer wieder vor Entscheidungen: Würdest du unter Umständen lügen, wenn dich jemand darum bittet? Würdest du zur Not Gewalt anwenden, um andere Menschen zu retten? Würdest du eine verdächtig erscheinende Mail deines Partners lesen?
Man fühlt sich wie in einem Spionage-Thriller. Jede Person geht ihren individuellen Weg durchs Museum, abhängig davon, ob sie die Fragen mit Ja oder Nein beantwortet. Heimlich fotografiert man andere Menschen und steckt einem anderen Agenten einen Zettel zu. Das System weiß stets, wo man sich befindet. Dazwischen hört man unzählige O-Töne, zum Beispiel von Gerhard Schindler, dem ehemaligen BND-Präsidenten, der sagt, dass schmutzige Geschäfte zu betreiben Alltag für Nachrichtendienste sei. Spione müssen lügen, betrügen und mit den Gefühlen anderer spielen. Ein aktiver Geheimpolizist aus Griechenland, er will anonym bleiben, erzählt, wie er monatelang eine Person beschattet, aber trotzdem nicht den Zweck seiner Überwachung erfährt.
Experten des Alltags
Das Regiekollektiv Rimini Protokoll, bestehend aus Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi, macht anhand von konkreten Orten, Szenarien und sogenannten Experten des Alltags große Zusammenhänge erlebbar. Mit viel Aufwand haben sie damit komplexe Systeme geschaffen, wodurch die Inszenierungen im doppelten Sinne großartig sind. Für „Gesellschaftsmodell Großbaustelle“ (Staat 2) hat Rimini Protokoll im HKW eine ganze Halle in eine Großbaustelle mit Kran, Sandberg, Gerüst und einer Aussichtsplattform verwandelt. Acht Besuchergruppen zu jeweils 30 Personen werden gleichzeitig koordiniert und zeitlich aufeinander abgestimmt an verschiedenen Stationen über die Baustelle geführt. Beeindruckend und oftmals auch witzig ist, wie sich alle parallelen Abläufe aufeinander beziehen und ineinander verweben.
Die WanderarbeiterInnen
Die Besuchergruppe, die gerade als WanderarbeiterInnen aufsteht, sich streckt und zur Arbeit marschiert, symbolisiert zum Beispiel für eine andere Besuchergruppe die Stadt Singapur, die bankrott war und sich dann zu einer der reichsten Städte der Welt entwickelte. Alles funktioniert nach einer Choreografie, alles beeinflusst und wirkt auf andere Prozesse und das Ganze wird zu einem Wimmelbild. Wer ist verantwortlich? Die Schuld tragen immer die anderen und die Welt ist korrupt, so der Konsens. Aber es gibt auch viele Momente der Hoffnung. Ein Professor für Stadtentwicklung präsentiert ein überzeugendes Konzept für postfossiles Bauen und ein Ameisenforscher rät zur Geduld, denn die Menschen hätten erst wenige tausend Jahre an Bau-Erfahrung.
Zwei Moderatoren in Athen spielen in Staat 3, „Träumende Kollektive und tastende Schafe“, ein Zukunftsszenario mit dem Publikum durch: Die Vorstellung einer Intelligenz, die nicht nach eigenen Interessen handelt, weder in Skandale noch in Abhängigkeiten verstrickt ist und somit Probleme gerecht und fair lösen kann, ist verlockend. Künstliche Intelligenz spricht mit einer Siri-ähnlichen Kinderstimme aus dem Off und stellt eine Frage nach der anderen. Doch die meisten Zuschauenden, so zeigt es die Abstimmung, die an die Wand projiziert wird, bleiben skeptisch.
Eine Zuschauerin, die als Ms Average ermittelt wird, also die Person, deren Antworten am meisten im Durchschnitt lagen, beschwört: „Das kann nicht sein.“ Weitere Pannen und Systemfehler machen misstrauisch. In welchen Bereichen sind wir bereit, unsere Selbstbestimmung abzugeben oder haben es schon längst getan? Verhalten sich Menschen tatsächlich autonom oder doch eher wie Schwärme und Herden? Wie viel geben wir von uns preis? Diejenige Farbe, die jeweils auf dem eigenen Smartphone erscheint, verraten den Umstehenden, welche Antwort man geklickt hat. Jede der vier Antwortmöglichkeiten erzeugt einen anderen Ton, zusammengefügt ergibt das am Ende eine Sinfonie der Entscheidungen.