By Horst Lohr
06.06.2007 / Stuttgarter Nachrichten
In der zweiten Diskussionsrunde kommt das Aus für den Stuttgarter Beitrag zum "Stücke"-Wettbewerb in Mülheim. Das Urteil der Juroren über Martin Heckmanns "Wörter und Körper" fällt zwiespältig aus.
Sie loben die "softe und weiche Dramaturgie" der Auftragsarbeit für das Schauspiel Stuttgart, stören sich vor allem aber an der "engen Verwandtschaft" zu Botho Strauß. Eine gewisse Nähe lässt sich nicht übersehen, doch gelingt Heckmanns eine sehr eigenständig filigrane Diagnose der inneren Schadstellen moderner Großstädter. Ihre Verlorenheit fängt Schauspielchef Hasko Weber in der leeren Bühnenweite mit seiner schwebend leichten Inszenierung ein. Enttäuschend, wie in der beschränkten Räumlichkeit des Theatersaals der Mülheimer Stadthalle Stück und Aufführung an Poesie und feinem Humor verlieren.
Bei den vom Auswahlgremium aus 123 vorgelegten Stücken nominierten acht Theatertexten fällt das gestiegene handwerkliche Niveau auf. Dauerhaft im Gedächtnis - weil es über die Gegenwärtigkeit gesellschaftlicher und politischer Phänomene hinausweist - bleibt wenig. Schwerpunktmäßig fokussieren die Autoren den Blick auf die von Terror und autoritären Strukturen ausgehenden Gefahren und familiären Verwerfungen in Zeiten des Anything goes.
Mehrere Autoren-Tandems holen mit semidokumentarischem Texten ein Stück Realität auf die Bühne: Feridun Zaimoglu und Günter Senkel machen in "Schwarze Jungfrauen" aus Interviews mit "Neomosleminnen" einen explosiven Kampfruf tougher junger Frauen gegen europäische Beliebigkeit und das Dominanzgehabe muslimischer Männer; was fehlt, ist literarische Substanz. Armin Petras und der Schauspieler Thomas Lawinky zeigen "Mala Zementbaum". Entstanden ist es nach Lawinkys DDR-Biografie zwischen Punk, Republikflüchtling und Stasi-Mitarbeiter. Ein raffiniertes, doch verschwommenes Stück über das Verschmelzen von Täter und Opfer.
Im Gegensatz dazu kehren die beiden Mülheim-Debütanten zum konventionell-narrativen Stück zurück und verwandeln dabei gekonnt Soziolekt in Kunstsprache. So beobachtet der 25-jährige Dirk Laucke mit "Alter Ford Escort dunkelblau" drei Männer bei ihrem Fluchtversuch aus der Leere des Existenzminimums in ein unerreichbares Legoland. Die 24-jährige Züricherin Darja Stocker lässt in "Nachtblind" ein Mädchen in eine selbstzerstörerische Liebe taumeln.
Auch der Schweizer Lukas Bärfuss beschreibt in "Die Probe (Der brave Simon Korach)" Auflösungsprozesse in einer Familie. Das etwas krude Stück überzeugt nur bedingt, auch weil die Uraufführung der Münchner Kammerspiele über schrillen Comic-Ton nicht hinauskommt.
Das sprachlich reichste Angebot macht dem Theater einmal mehr Elfriede Jelinek: Mit kunstvollem Wirrwarr aus Zitaten, Anspielungen, ironischen und ernsten Passagen verquickt sie in "Ulrike Maria Stuart" das Schicksal von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin mit dem von Schillers Maria Stuart und Königin Elisabeth I. und schafft dabei einen schrillen Befund über die Unmöglichkeit, eine bessere Welt zu schaffen.
Überraschend erhalten den mit 15 000 Euro dotierten Dramatikerpreis wie auch den Publikumspreis Rimini Protokoll (Helgard Haug und Daniel Wetzel) für ihr mutiges und vergnügliches Theater-Proseminar "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" - entwickelt aus den Biografien und dem Fachwissen von acht Kapitalismus-"Experten", die höchstselbst auf der Bühne agieren. "Obwohl das Stück keine Handlung hat, besticht es mit großer dramatischer Qualität. Es ist kein Versuch, Marx zu erklären, sondern die Auseinandersetzung mit dem Mythos Fetisch." So begründet die Jury ihr Votum. Wie aber werden diese geschickt montierten Geschichten wirken, wenn sie einmal von Schauspiel-Profis dargestellt werden? Man darf gespannt sein.