By Bernd Noack
11.12.2016 / www.spiegel.de
Die Theatermacher von Rimini Protokoll inszenieren in der Münchner Glyptothek die obskure Welt der Geheimdienste und machen die Zuschauer zu Mitspielern. Ein Erfahrungsbericht.
Im Café der Glyptothek in München treffe ich auf einen Mann. Ich habe ihn noch nie gesehen. Auf ein Zeichen hin, das mir über Kopfhörer genannt wurde, erkennen wir uns. Wir nehmen nebeneinander, zwischen all den anderen fremden Menschen, Platz, blicken uns nicht an, reden nicht. Dann schiebt er mir sein Stück Papier zu, ich ihm meines. Nach ein paar Minuten, in denen wir belanglos durch die Szenerie blicken, stehen wir langsam auf. Die Stimme im Ohr befiehlt, dass wir wieder gehen sollen. Jeder in eine andere Richtung. Wir werden uns später in den Räumen des Museums noch mehrmals über den Weg laufen, aber wir werden uns nichts anmerken lassen. Nur wir beide wissen, dass wir jeweils ein Geheimnis des anderen mit uns herumtragen: Auf den Zetteln steht, wovor wir uns am meisten fürchten.
Ein Spiel nur. Harmlos und doch irgendwie unangenehm. Wir befinden uns in einem System, das wir nicht begreifen und dessen Teil wir doch längst sind. Zweimal durchlaufen wir die Säle der Glyptothek, schlendern zwischen den steinernen Körpern, Köpfen und Fragmenten herum, die von uralten archaischen, hellenischen oder römischen Zeiten erzählen - und befinden uns doch in der Gegenwart. In einer Gegenwart, die Angst machen kann. Denn während wir vor Skulpturen und Büsten stehen wie ganz normale Museumsbesucher, hören wir Geschichten, die nicht zu den Exponaten passen wollen: Geheimdienst-Mitarbeiter erzählen von ihren Einsätzen, Spione berichten, wie sie angeworben wurden, Spitzel vertrauen uns vermeintliche Staatsgeheimnisse an, Datenexperten verwirren uns mit Informationen über die längst weltweit flächendeckenden Möglichkeiten der perfekten Überwachung. Wir kommen da jetzt nicht mehr raus, wir wissen auf einmal zu viel, werden hineingezogen in das Netz von Spezialeinheiten, und am Ende wird man uns anwerben für den Bundesnachrichtendienst.
Die Stimme im Ohr befiehlt und dirigiert
Dokumentartheater, wie es nur Rimini-Protokoll einfallen kann. Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel haben für diese Produktion der Münchner Kammerspiele einen Parcours im öffentlichen Raum inszeniert, der uns in eine nichtöffentliche Parallelwelt versetzt. Wie unauffällige Kunst-Interessierte betrachten wir die alten Exponate, doch unsere Aufmerksamkeit gehört längst völlig anderen Themen. Die Stimmen in unseren Ohren befehlen und dirigieren, sie lenken unseren Blick auf den Kopf von Sokrates, auf ein altes Mosaik an der Wand, auf den barberinischen Faun, der sich in obszöner Wollust vor uns rekelt, und traktieren uns gleichzeitig mit Informationen, mit ungeheuerlichen Enthüllungen und freimütig ausgeplauderten Spionagetricks und Undercover-Abenteuern.
Ein direkter Zusammenhang zwischen der hier in Szene gesetzten antiken Wirklichkeit und der Geschichte, in der wir uns bewegen, besteht nicht. Aber gerade das macht den Reiz aus: Der neutrale Ort wird zum Schauplatz globaler Verwicklungen, ja sogar Verbrechen und versteckter Aktivitäten, die helfen, einen Krieg vorzubereiten oder einen Terroranschlag zu verhindern.
Mehrmals werden wir unfreiwilligen Spione, die aus dem wunderbaren Zustand der Ahnungslosigkeit kommen, aufgefordert, Stellung zu beziehen. Entscheidungsfragen bestimmen, wie und wohin uns unser weiterer Weg führt: Ist man bereit, einem Menschen Gewalt anzutun, um andere zu retten? Würde man jemanden bestechen, um an brisante Informationen zu kommen? Verrät man das Wissen über eine mögliche verheerende Katastrophe an eine kleine Gruppe oder gleich der ganzen Welt - und löst somit eine Massenpanik aus? Und auf einmal wird jeder andere Besucher, der Tourist aus Fernost, der vor dem Torso eines sterbenden Kriegers steht, oder die Dame, die scheinbar desinteressiert an dem kühnen Alexander vorbeispaziert, irgendwie zur verdächtigen Person. Verfolgt sie dich, oder ist das alles nur Zufall? Oder haben gar die alten Marmorköpfe hier Ohren? Alles nur Tarnung?
Weiß der Herr etwas über mich, das ich selbst nicht weiß?
Ein Spiel nur, sicher. Und perfekt ausgeklügelt. Entworfen am Rechner und individuell getaktet. Zu Beginn hat jeder, der mitspielt, einen Schreibblock bekommen, in dessen Inneren sich ein Handy befindet: alles ist programmiert, jeder Schritt wird überwacht, jedes Ausscheren ("Aussteigen" wäre das wohl dann nach den Geheimdienstregeln) korrigiert. Wer mal drin ist im System, bleibt drin gefangen. Wir sind Geheimnisträger und als solche eine Gefahr: für andere, aber auch für uns selber. Verunsichert blicken wir um uns, schon lange haben wir ihn drauf, diesen typischen "360-Grad-Blick", der Verdächtiges aufspürt, und wir sind peinlich darauf bedacht, selber nicht verdächtig zu wirken. Und immer wieder diese Stimmen. Die Whistleblowerin zieht uns in ihr Vertrauen, der Ex-BND-Chef plaudert aus dem Nähkästchen über Illegales, jemand versucht uns zu überzeugen, dass es Geheimnisse geben muss, weil sonst das ganze Universum vor die Hunde gehen würde. Und dann schaut mich seit einer Weile schon dieser Herr dort an, verfolgt mich. Was will er von mir, was weiß er über mich? Vielleicht etwas, was ich selbst noch gar nicht weiß?
Das System schickt mich schließlich die Treppe hinunter zu den Toiletten. Ich soll am Spiegel vorbei und zügig in eine der Kabinen gehen. Hinter mir zusperren. Endlich allein, hier sieht mich niemand. Ein Regenerierungsort für nervös gewordene Agenten. Der Spion, der aus dem Klo kam. Doch da liegt schon wieder ein Zettel auf dem Boden: "Geheim" steht drauf. Mein Auftrag nimmt anscheinend kein Ende. Da muss irgendwo jemand sein, der herausbekommen hat, dass ich hier bin. Vielleicht der Unbekannte aus dem Café, mit dem ich mich traf, konspirativ? Ich habe ja noch seine Nachricht, ein gefaltetes Stückchen Papier, auf dem er seine Furcht vor was oder wem auch immer mitteilt. Er hat meines: In dem gesamten Museum, in dem es an diesem Nachmittag von Menschen wimmelt, befindet sich genau einer, der etwas über mich erfahren hat, was ich sonst niemandem mitgeteilt habe. Was wird er mit dieser Information machen? Sie weiterleiten an seinen Auftraggeber? Sie verkaufen? Mich erpressen? Die letzten zwei Stunden haben mich misstrauisch gemacht. Auch wenn ich meine, allein zu sein, fühle ich mich beobachtet. Ist das schon Paranoia oder bin ich nur einem "Phänomen der Postdemokratie" auf der Spur, wie Rimini-Protokoll diese (technisch) höchst aufwendige, verstörende Recherche nennt?
Ich falte den Zettel des fremden Mannes auf. Was ich lese, geschrieben in krakeliger Schrift, ist anrührend - und hat so gar nichts mit der kalten, mörderischen, gesetzlosen und obskuren Welt der Geheimdienste zu tun. Es ist eine Furcht aus alten Tagen, eine menschliche, traurige, ewige. Freilich eine, die keinen CIA oder BND jemals interessieren würde: "Alleine sein" steht da.
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