By Peter Michalzik
07.06.2005 / Frankfurter Rundschau
In Mannheim haben sie am Sonntag das Theater abgeschafft.
Auf der Bühne stehen unter anderem der Mannheimer OB-Kandidat der CDU, Sven-Joachim Otto, und der Weimarer Polizeichef Ralf Kirsten. Die beiden spielen sich selbst, wobei auch das Selbst eine Theaterrolle bleibt. Otto singt ein Lied und berichtet dann sachlich, wie er als 29jähriger zum OB-Kandidaten wurde, wie er mit dem Hund des Fraktionschefs und seinen Geschwistern zum Tierliebhaber und Familienmensch aufgebaut wurde, wie er auf Wählerfang reihenweise Gartenparties besuchte und immer ein Bierfass mitbrachte - um die Idee beneidet ihn die SPD heute noch -, und wie er dann letztes Jahr von seiner eigenen Partei nicht gewählt wurde. Eine Heide-Simonis-Geschichte also. Ralf Kirsten erzählt, was geschah, nachdem er, der leidenschaftliche Polizist, in der DDR ein Verhältnis zu einer Frau hatte, die einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Eine Geschichte zwischen Land und Liebe also.
Die beiden Berichte sind Wort für Wort wahr. Trotzdem sieht man keine Reportage und hört keine Interviewaussagen, es ist Theater, also Spiel, also Fiktion. Otto und Kirsten sind nicht Otto und Kirsten, sondern spielen Otto und Kirsten. Deswegen erschaffen sie sich und dekonstruieren sich im gleichen Moment. Deswegen ist das aufregender und wahrer als jeder Bericht sein kann. Es ist sozusagen durchsichtig. Das Theater aber scheint sich in diesem Moment vor lauter Transparenz aufzulösen: Wenn der König (und Otto und Kirsten besetzen diese Position als Politiker ja in der Wirklichkeit) den König spielt, der er ist, wozu soll es dann noch Schauspieler geben, die Könige spielen? Andererseits wird die Mannheimer Aufführung genau damit die größte denkbare Apotheose des Theaters.
Der wahre König des Abends aber ist der Vietnamkriegsveteran Dave Blalock. Wenn er erzählt, wie in seinem Platoon die Pläne reiften, den grausamen Commander umzubringen, wie der mit einer Granate dann wirklich ermordet wurde, dann kann der Zuschauer nicht glauben, was er aber tatsächlich glaubt, nämlich dass Blalock es getan hat. Da passiert einiges: Die Position des Königs wird umdefiniert, denn der Untergebene wird zum Herr über Leben und Tod. Das Theater ist so dicht an der Wirklichkeit dran wie sonst nie, so dicht, dass man auf einen amerikanischen Militärpolizisten wartet, der Blalock verhaftet. Und dann steckt man auch noch tief drin in Schillers Wallenstein, zumindest dem politisch-militärischen Komplex des Stückes. Schillers Drama ist die Vorlage, die die Aufführung strukturiert.
Wahrer als in Wirklichkeit
Die Gruppe Rimini-Protokoll, hier vertreten durch Helgard Haug und Daniel Wetzel, arbeitet in Mannheim zum ersten Mal nach einem klassischen Text. Auf der Bühne sind deswegen massenweise Reclamhefte. Die eigentliche Leistung aber besteht nicht in der Schilleradaption, sondern darin, dass Rimini Protokoll die insgesamt zehn spielenden Personen gefunden, auf die Bühne gebracht und diese Schillerübersetzung so zusammengebaut hat, dass die Personen realer wirken als sie in Wirklichkeit sein könnten.
Rimini Protokoll ist für diese Art Dokumentartheater bekannt, seit Wolfgang Thierse verboten hat, im Bonner Plenarsaal eine Berliner Bundestagsdebatte mit echten Bürgern nachzuspielen. Jetzt sind sie damit weiter gekommen als jemals zuvor. Sie erreichen eine Brenzligkeit, die in der theatralisierten Medienwelt unmöglich scheint und die doch eine schlagende Antwort auf sie ist.
So sieht das eine Ende des Theaters aus, das bei den aufregenden Mannheimer Schillertagen jetzt zu sehen ist. Am anderen Ende ist die Aufführung von Thomas Langhoff - wobei Langhoffs traditionelles Theater sich genauso zwischen Realität und Fiktion bewegt wie das von Rimini Protokoll oder überhaupt jedes Theater. Nur dass hier Schauspieler eben wirklich andere Personen spielen, in diesem Fall die von Schillers Heldendrama Wilhelm Tell.
Nun ist der Mann, der da zu sehen ist, aber sicher kein Held. Werner Stauffacher kann sich dem despotischen Reichsvogt Gessler nicht unterwerfen - aber er ist doch keiner, der aufbegehren würde. Zuhause erzählt der Mann im Pollunder seiner Frau Gertrud in der weißen Bluse, dass Gessler ihm Haus und Selbstbestimmung streitig machen will und es klingt, wie wenn ein Angestellter von seinem Vorgesetzten berichtet. Und jetzt legt er auch noch den Kopf in ihren Schoß.
Es ist Gertrud (Ute Fiedler), die Werner (Michael Schmitter) zum Aufruhr bringt. Nicht indem sie sein revolutionäres Wesen erkennen würde (wie bei Schiller), sondern indem sie ihren Mann zu einem naiven, ziemlich blauäugigen Heroismus anstachelt. Sie spricht von ihrem Selbstmord, aber das ist kein ernster Blick in eine mögliche Konsequenz (wie bei Schiller), sondern Anlass zu einem Kuss. Da funkt's mal wieder zwischen den beiden. Sozialversicherte träumen von den Gefahren des Risikos, das ist die Revolution per Zufall und auf gutbürgerlich.
Die Stauffachers besprechen sich, wie das Ehepaare in Deutschland oder der Schweiz heute für gewöhnlich tun, und doch zweifelt man keinen Moment - das ist das Schöne dieser Aufführung -, dass sie Schiller sprechen. Thomas Langhoff hat die Mannheimer Schauspieler auf einen umgangssprachlichen und weit heruntergedimmten Ton eingestimmt, der Schiller bei sich und auch alles Pathos lässt, das man in ihn hineinhören kann. So entsteht eine klare, dramatische Sprache. Langhoff nimmt Schiller ernst, sehr ernst, da ist keinerlei Ironie zu spüren, aber er vermeidet alles, was dieses Stück für die Tourismus- und Patriotismusbranche so interessant macht.
Vor allem ist es lebendige Theatergeschichte, wenn Thomas Langhoff zur Eröffnung der Schillertage im Schillerjahr das letzte Stück des wieder geliebten Nationaldramatikers inszeniert. Es war Wolfgang Langhoff, der dieses Stück 1943 in Zürich als Antinazistück gezeigt hatte, sein Sohn Thomas hatte damals Tells Sohn Wilhelm gespielt. Dass der Despot Gessler in Mannheim jetzt mit einem alten Beisitzermotorad auffährt, kann sanft daran erinnern. Es war ebenfalls Wolfgang Langhoff, der das Stück am Berliner Deutschen Theater als SED-Regimekritik gezeigt hatte.
Schöner als die Wirklichkeit
Schön ist Thomas Langhoffs Aufführung, wenn die Sprache sozusagen privat bleibt, wie auf dem Rütli, wo sich die Eidgenossen mit Taschenlampen zum Schwur treffen, wenn das Theater Theater bleibt. Heikel wird sie, wenn sie nach Bedeutung, das heißt nach Wirklichkeit sucht. Dieser Tell ist inszeniert als Parabel. Er sieht im abstrahierten Bühnenbild von Mathis Neidhardt (neun große, schwarze Toblerone-Dreiecke lassen sich als Alpengipfel verwenden, aber auch zu Wänden und Gassen umarrangieren) so aus, wie wenn hier Brecht gespielt würde, was durch die Verwendung von Hans Eislers Musik noch verstärkt wird.
Was aber meint die Parabel, wenn beim Rütlischwur die Eidgenossen beschwörend wiederholen: "Wir sind ein Volk und einig wollen wir handeln." Das ist ein klein wenig erhebend, irgendwie beängstigend, kitschig und etwas lächerlich. Soll es 1989 ironisieren oder heroisieren? Und was sagt es, wenn Stauffacher sich nach dem Schwur ebenfalls zu hohem Pathos aufschwingt? Was bedeutet es, wenn Gertrud Schweizer Fähnchen verteilt, wenn die Familie Tells am Ende, nachdem der Apfel zielsicher vom Kopf und der Pfeil in des Landvogts Herz geschossen ist, so stimmungsvoll illuminiert wird und alle "Da kommt der Vater" singen, den doch Politik so gar nicht interessiert?
Überhaupt, was sagt hier der Tell-Teil des Dramas? Die Schieß- und Rachegeschichte dieses alpenländischen Eigenbrötlers, den Markus John in Mannheim zurückhaltend, ein ganz klein wenig linkisch und so bodenständig vergegenwärtigt, dass er fast lustlos wirkt, wird hier wieder das, was sie mal war: ein Fremdkörper in der Erzählung vom Rütlischwur. Erst im nachhinein und endgültig von Schiller und den Schweizern wurden beide Teile verschmolzen. So ist diese Inszenierung zwar schön gearbeitet, aber das Stück zerfällt unter der Hand in die Bestandteile. Auch das könnte Dekonstruktion sein. Aber für eine solche, heutige Bedeutung geht die - liebevolle - Profanierung des hohen Stoffes einfach nicht weit genug.
Die 13. Internationalen Schillertage in Mannheim dauern bis 12. Juni, die ein reichhaltiges Gastspielprogramm zeigen. "Wilhelm Tell" und "Wallenstein" sind Originalproduktionen. "Wallenstein" läuft im Probezentrum Neckarau bis 10. Juni, außerdem in Weimar, e-werk, 16. - 18. Juni. "Wilhelm Tell" ist am 12., 19., 22. und 30. Juni am Nationaltheater Mannheim zu sehen. alz