By Andrea Rossmann
29.06.2002 / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Die schwere Wirtschaftskrise in Argentinien habe sich, so
berichtet Matthias Lilienthal, der Direktor des Festivals "Theater
der Welt", im Stadtbild von Buenos Aires früh angekündigt:
Plötzlich seien in der von Reklame überwucherten Metropole die
Plakatflächen weiß gewesen. Vielleicht hat ihn das Theater dort
auch deshalb so tief beeindruckt, daß er gleich vier
Aufführungen aus Argentinien, mehr als aus einem anderen
Land, eingeladen und sogar drei Auftragswerke, von denen nur
eines zustande kam, vergeben hat. Denn mit den Bildern der
Werbung und des Entertainments, die aus Nordamerika
kommen und zumal das Fernsehen beherrschen, haben sie nichts
zu tun: Deren Allgegenwart setzen sie Vorstellungen,
Ausdrucksformen, Erzählweisen entgegen, die der geschlossenen
Fiktion mißtrauen und auf eine eigene Wirklichkeit bestehen. Ihr
Zusammenhang ist brüchig, in Augenblicken nur scheint sie auf.
Die Darstellung reflektiert das: Ihre Form ist das Fragment, ihre
Ästhetik die Montage.
(...)
Die Moltkestraße am Westrand der Kölner Innenstadt ist eine
belebte Bühne. In der Stunde vor Mitternacht herrscht viel
Verkehr - Passanten, Nachtschwärmer, Fußballfans. Auf dem
Mittelstreifen stehen drei ehemalige Pförtner und erzählen, wie
sie zu diesem Engagement gekommen sind und was sie so alles
erlebt haben in ihrem früheren Job: Streitigkeiten und
Schlüsselprobleme, Wasserrohrbrüche und Rettungsaktionen,
hilfsbereite und hysterische Hausbewohner. Sie setzen sich für
einen Kaffee oder rauchen eine, wechseln hinüber auf die
gegenüberliegende oder heran auf diese Straßenseite. Auch
"Torero Portero" ist eine Produktion aus Argentinien, der
Schweizer Regisseur Stefan Kaegi hat sie für das Goethe-Institut
in Cordoba, der zweitgrößten Stadt des Landes, erarbeitet. Die
drei Akteure hat er mitgebracht, die "Hauptrolle" aber mußte
neu "besetzt" werden: der Ort der Handlung und mit ihm ihre
Unwägbarkeiten. Das Projekt bezieht seinen aleatorischen Reiz
und überraschenden Witz aus der Umkehrung der
"Normalzustands": Die Zuschauer, die in der leergeräumten
Galerie Borgmann-Nathusius sitzen und auf die Straße schauen,
übernehmen die Perspektive der Pförtner, die zu Protagonisten
eines Spiels werden, das mit dem Umfeld interferiert und
interveniert. Wenn Schattenexistenzen ins Scheinwerferlicht
geraten und aus Unbeteiligten Beteiligte werden, wird der Alltag
einer anderen Betrachtung ausgesetzt: der Blick aus dem
Schaufenster als kleine Schule des Sehens.
Viermal Theater aus Argentinien. Fernes, ganz nah herangeholt.
Herausgenommen aus Zusammenhängen, die vielfach im
Ungefähren bis Unbekannten bleiben. Denn die Aufführungen
enthalten fast nichts, was ein Wiedererkennen zuläßt. Der hiesige
Zuschauer versteht vor allem, daß er vieles nicht versteht. Aber
auch, daß unter den bekannten Bildern der Oberfläche andere
liegen und eine Wirklichkeit bedeuten, die sich nicht so ohne
weiteres erschließt. Apologien des Apokryphen. Kein Schein
wird produziert, nichts vor- oder nachgespielt, nichts erklärt
oder interpretiert. Nur festgehalten, konturiert, angedeutet. In
der Knappheit steckt die Irritation. Womöglich ist das, und dafür
stehen auch andere Produktionen des Festivals, der
entscheidende Impuls von "Theater der Welt": Mehr noch als die
Wahrnehmung des anderen eine andere Wahrnehmung
anzustoßen.
ANDREAS ROSSMANN
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.06.2002, Nr. 148 / Seite 46