By Katja Baigger
14.01.2018 / Neue Züricher Zeitung
Militärflugplatz Dübendorf. Der Helikopter startet, wir sind mittendrin im ruckelnden 360-Grad-Video, überfliegen die Zürcher Altstadt, den Zürichsee, den Walensee und landen schliesslich am WEF in Davos. Ein Bauer habe seine Wiese für 5000 Franken als Landeplatz zur Verfügung gestellt und damit den Konkurrenten ausgestochen, der 12 000 Franken gewollt habe, berichtet Hans Peter Michel. Von 2005 bis 2012 war er als Landammann von Davos entscheidend an der Organisation des Weltwirtschaftsforums beteiligt.
Die Kläranlage stösst an Grenzen
Jetzt stapft Michel in der Inszenierung «Weltzustand Davos» als sogenannter Experte des Alltags mit Krawatte und Daunenjacke durch den Kunstschnee und sagt trocken: «Während des WEF steigt die Bevölkerungszahl der Bündner Gemeinde von 12 000 kurzzeitig auf 50 000, die örtliche Kläranlage stösst an ihre Grenzen.» Nicht so das Sicherheitskonzept, das auch funktioniere, wenn Donald Trump komme, so Michel. Bald wird der amerikanische Präsident mit seiner Entourage auf dem Zauberberg landen und dort das mediale Scheinwerferlicht nutzen, um seine Politik zu vermarkten. Doch jetzt ist das bunt gemischte Theaterpublikum im Zürcher Schiffbau dran, das schmunzelnd oder stirnrunzelnd in die Rollen von Teilnehmern des Weltwirtschaftsforums (WEF) schlüpft. Die «Konferenzmappe» unter dem Sitz verleiht jedem Zuschauer eine Identität. Etwa jene von Microsoft-Gründer Bill Gates oder von Glencore-CEO Ivan Glasenberg.
Die Zuschauer schnuppern Davoser Luft, aufbereitet in gewohnter Dokumentartheater-Manier von Helgard Haug und Stefan Kaegi, die zum Trio Rimini Protokoll gehören. Wie üblich hat die Regie Laien aufgeboten, die in ihrem richtigen Leben am Rande etwas mit dem Hauptgegenstand des Abends zu tun haben. Neben Hans Peter Michel verknüpfen ihre Biografie mit dem WEF der aus Sri Lanka stammende, über den Rohstoffkonzern Glencore forschende Soziologe Ganga Jey Aratnam, der Lungenarzt Otto Brändli, die einstige Uno-Mitarbeiterin Cécile Molinier und die Vizepräsidentin des WEF-Nachwuchs-Verbandes, Sofia Sharkova.
Das Duo Haug/Kaegi und seine fünf Protagonisten wählen das Hintertürchen des historischen Zeitraffers, um die Bühne der gegenwärtigen Elite zu betreten. Das heisst aber nicht, dass sie nicht ins Herz der Sache träfen, im Gegenteil. Die Zuschauer blicken hinter die Kulissen der geschliffenen WEF-Rhetorik. Der Sympathieträger Hans Peter Michel berichtet zum Beispiel, wie er 2009 den damaligen chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao an den friedlich demonstrierenden Exiltibetern vorbeikomplimentierte, ohne dass dieser etwas von der bewilligten Kundgebung bemerkte. Michel findet, wer gewaltfrei auf seine Anliegen aufmerksam mache, habe stets einen Platz in Davos.
Ganga Jey Aratnam lobt den Leistungsausweis von Ivan Glasenberg, Chef des schweizweit umsatzstärksten Unternehmens. Im Rampenlicht steht derweil der verdattert nickende «Zuschauer-CEO», so entsteht immer wieder Komik in der täuschend echten Hockey-Arena. Das famose Bühnenbild hat der für sein innenarchitektonisches Spiel mit der Authentizität bekannte Zürcher Dominic Huber in der Box des Schiffbaus errichtet. Damit verweist er auf den jeweils in Davos stattfindenden Spengler-Cup. Gleichzeitig bildet sein Bauwerk eine Metapher für den Auftritt der globalen Player.
Wiederkehr der Tuberkulose
Davos ist zum Synonym für das WEF geworden. Vor 100 Jahren war das anders, als, wer den Namen des Rückzugsorts hörte, an die Tuberkulosepatienten dachte. Mit Otto Brändli wurde passenderweise ein Lungenforscher gecastet; der heute 76-Jährige leitete einst jene Davoser Klinik, in der Jahre zuvor sein tuberkulosekranker Vater gelegen hatte. Heute befasst sich Brändli mit der Rückkehr der Tuberkulose weltweit.
Geschickt verbindet die Regie das «alte» Davos Thomas Manns mit dem neuen, wenn sie die folgende Problematik beschreibt: Die am WEF anwesende Pharmabranche schreckt davor zurück, neue Tuberkulosemedikamente herzustellen, auch fehlen finanzielle Mittel. So sterben laut Brändli noch heute jede Minute drei Personen an der Lungenkrankheit. Das World Economic Forum sei ein Sanatorium für die kränkelnde Welt, sagte dessen Gründer Klaus Schwab einst sinngemäss. Rimini Protokoll legt nun das WEF selbst als Patienten auf eine «Schatzalp»-Liege. Die Diagnose lautet: Gesundheitszustand fragil.