By Oliver Schwambach
29.05.2012 / Saarbrücker Zeitung
Am Ende des Theaterabends in der Buswerkstatt nahe des Saarbrücker Eurobahnhofs fällt ein Satz von monumentaler Wucht: "Ich würde lieber jeden Abend mein Leben spielen, als es zu leben." Was muss das für ein Leben sein, das im Schutzraum der Fiktion umso vieles erträglicher, das vom Rampenlicht derart aufgehellt wird? Ein hartes Leben, ja, oft auch nur nacktes Überleben: All das hat man erfahren, wenn Abdullah Dagacar und seine Kollegen von ihrem Dasein als Wertstoffsammler in Istanbul berichten. Sie leben davon, täglich den Müll der Millionen-Stadt zu durchkämmen. Plastik, Papier, Holz und, wenn sie Glück haben, das rare Aluminium aufzustöbern, in dem, was andere wegwerfen. 900 Kilogramm Kunststoff: Das reicht für die Miete eines Monats in der anatolischen Provinz, wo seine Familie lebt, rechnet einer vor. Doch dafür müssen er und seine Vettern sich wochenlang durch den Müll wühlen, um solche "Schätze" zwischen faulendem Essen, toten Tieren und blutigen Binden zu finden. Ständig sind sie bedroht von Krankheit, misstrauisch beäugt sie die Polizei, und sie müssen fürchten, dass die Türkei auf eine zeitgemäßere Abfallwirtschaft mit geregeltem Recycling umstellt. Was der Umwelt (hoffentlich) nutzt, gefährdet die Existenz von Abdullah Dagacar und seinen Kollegen.
Dieser eine Satz am Ende nun, auch wenn man ihn nur in der deutschen Übertitelung lesen kann, wenn man das Türkisch der fünf Bühnenakteure nicht versteht, er hat solche Kraft, weil es hier wirkliche Menschen sind, die ihr eigenes Leben darstellen - als "Experten" ihres Alltags. "Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls" kann daher kein Stück im üblichen Sinne sein, kein noch so realistisches Drama, kein Autorengespinst, es ist (sorgsam fürs Theater nachgestellte) Wirklichkeit. Solche Dokumentationen für die Bühne sind die Spezialität jenes dreiköpfigen Theaterkollektivs, das unter dem Namen "Rimini-Protokoll" firmiert. Von ihrem theoretischen Überbau konnte man dank einer Poetik-Dozentur von Helgard Haug, Daniel Wenzel und Stefan Kaegi in Saarbrücken (Staatstheater und Saar-Uni stemmten das gemeinsam) Einiges erfahren. Die Perspectives holten nun, nach bereits mehreren Gastspielen des Trios beim Saarbrücker Festival erneut diese außergewöhnliche Produktion hierher - klar ein Höhepunkt des Festivals. Auch wenn die mittlerweile mit Bühnenpreisen überhäuften Protokollanten mindestens so etabliert wie avantgardistisch zu nennen sind.
Trotz der Härte ihres Alltags aber ist "Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls" oft auch von einem heiteren Grundton getragen. Gewitzt, mit Stolz auf ihre Arbeit und Kultur berichten die Wertstoffsammler aus ihrer Welt, vergnügen sich etwa - man mag's als ironische Anspielung aufs Müllsammeln sehen - ausgiebig (und langatmig, hier wünschte man sich doch einen deutlich strikteren dramaturgischen Zugriff) mit einem traditionellen Schatzsucher-Spiel. Es sind Menschen, die das, was sie tun, mit großer Würde tun. Zudem kommentiert ein Karagöz-Spieler - ein Schattentheater, dessen Figuren an unser Kasperle-Spiel erinnern - die Dokumentation, schenkt ihr auch höchst poetische Momente. Auch das Theater selbst, wie häufiger bei "Rimini-Protokoll", wird zum Thema, wenn die Müllsammler vom Zusammentreffen mit den Theaterleuten berichten, erzählen, wie sich ihr Leben durch die Auftritte verändert. Und sie sich fragen, ob sie je wieder in ihr altes Dasein zurückfinden. Eben darin steckt der enorme Reiz, aber auch das Risiko dieser Theaterarbeit mit normalen Menschen, deren Mut, sich auf dieses Experiment einzulassen, man da nicht genug bewundern kann. Das macht dieses Theater so direkt und so ergreifend - manchmal aber auch so unspektakulär und ernüchternd wie das wirkliche Leben eben sein kann.
http://www.saarbruecker-zeitung.de/sz-berichte/kultur/Das-wahre-Leben-spielen;art2822,4309910#.T8QB0u2vJI8