Das Leben, ein Computerspiel
Best Before – Das jüngste Stück von Rimini Protokoll im Berliner HAU
By Elena Philipp
14.05.2010 / Nachtkritik.de
Rimini Protokoll, die Meister des Spin-Off, führen mit ihrer neuen Show in die Welt der Computerspiele. "Best Before", entwickelt in Kanada und nun erstmals in Europa zu sehen, ist ein Multi-Player-Game: Jeder Zuschauer steuert mit einem Gamepad seinen eigenen Avatar. Knapp zweihundert kleine bunte Bälle mit Augen-Nase-Mund hüpfen auf einer Leinwand im Hintergrund der Bühne auf und ab. Mit dem Controller kann man sie in der virtuellen 3D-Box bewegen, die "Bestland" darstellen soll, unser Land der begrenzten spielerischen Möglichkeiten.
Auf der Bühne sitzen die vier 'Experten des Alltags', die Helgard Haug und Stefan Kaegi gecastet haben: Brady Marks, die Bestland konzipiert hat, Duff Armour, der als Spieletester und Produzent beim Softwarekonzern Electronic Arts gearbeitet hat. Arjan Dhupia, der einen Doktortitel in experimentellem Spieledesign hält, und Ellen Schultz, die ihren Job als freie Journalistin aufgegeben hat, um als 'Flagger' auf kanadischen Baustellen den Verkehr zu regeln.
Du hast die Wahl
Schultz, eine fröhliche 61-jährige mit blonden Zöpfen, leitet uns mit Winkelementen in die Spielwelt. Wir starten als ein null Jahre alter Gummiball und haben sofort eine erste Entscheidung zu treffen: Sollen alle die gleichen Talente haben oder gibt es Hochbegabte und Minderbemittelte? 71,9 Prozent der Mitspieler bewegen ihre Figur in die linke Hälfte des projizierten Spielfelds und stimmen so für ungleiche Anlagen. Brady Marks klackert auf ihrer Tastatur, und schon können einige von uns höher und weiter springen als andere.
Mit voranschreitendem Alter - "Happy Birthday, you are ten" - werden die zu treffenden Kollektiventscheidungen politisch und sozial gewichtiger. Mit 15 Jahren werden die ersten Kugelkinder geboren, weil sich die Mehrheit für Sex entschieden hat. Entscheidungen haben Konsequenzen, das stellen wir auch mit 20 fest, als wir einen Beruf wählen. Wer sich um die Markierung schart, die "Game Tester" verkündet, in seinen frühen Jahren aber Bücherwurm statt Computernerd sein wollte, bleibt leider arbeitslos, während andere ihre ersten eigenen "Bestos" verdienen und sich proportional zu ihrem Vermögen aufblähen.
Der springende Punkt auf der Leinwand
Eine binäre Option folgt der nächsten, jede Wahl versieht das eigene Rundwesen mit mehr Markierungen: Der Hauskauf beschert ein Dach über dem Kugelkopf, Heroinkonsum ein Paar Hörner, Kankheit eine Narbe. Obwohl jeder Avatar einen Namen zugeteilt bekommen hat, werden Paco, Ulyses oder Filia aber nicht zu Identifikationsfiguren. Der Spielverlauf treibt alle unbarmherzig voran. Anders als im Online-Rollenspiel gibt es in "Bestland" keine Möglichkeiten, einen Charakter individuell zu steuern, oft genug verliert man seinen springenden Punkt im Gewusel auf der Leinwand aus den Augen.
Eine Sozialsimulation wie in "SimCity" geben der Code und die vier möglichen Befehle jedoch auch nicht her. Die Mehrheitsentscheidungen der Mitspieler dienen vielleicht als Lackmustest für die politische Gesinnung des Publikums. Wir stimmen mit 85,4 Prozent dafür, Immigranten aufzunehmen, und auch als der Nachbarstaat Worstland uns ein zweites Mal angegriffen hat, verwehren sich weiterhin 62 Prozent gegen eine Bestland-Armee. "Der Wille Kreuzbergs ist nicht zu brechen", kommentiert Arjan Dhupia grinsend. Ist "Best Before" vielleicht eine als Theater getarnte Milieustudie?
Ab ins virtuelle Jenseits
Falls ja, dann ist Berlin-Kreuzberg für Hardliner brandgefährlich. Wir wählen aus unserer Mitte einen Präsidenten, Eddy, den "academic self-starter", wie ihn uns Duff Armour als gerissener Wahlkämpfer angepriesen hat. Eddy beschließt, die Erwartungen des erwiesen liberalen Publikums gewaltig zu enttäuschen und erhöht erst die Steuern, um die Mehreinnahmen dann in seine eigene Tasche zu wirtschaften. Außerdem unterbindet er künftige Wahlen und schickt die neu gegründete Armee in den Krieg. Bei der ersten Möglichkeit setzen wir ihn per Staatsstreich ab und schicken ihn ins Exil. "This is a first here", wundern sich die Spielleiter, und man möchte gerne wissen, welche Entscheidungen das kanadische Publikum traf.
Doch ein Vergleich wird uns vorenthalten. Zwei Stunden gemeinsamen Spiels nähern sich dem Ende, wir werden hundert Jahre alt und als gesamte Population einer nach dem anderen ins virtuelle Jenseits befördert, jeder Tod untermalt mit einem Schrei vom Band und einem aus dem Schnürboden klatschenden Gummiklumpen. Aus und vorbei. Ein unterhaltsames Spiel. Das Haltbarkeitsdatum des jüngsten Rimini-Produkts "Best Before" ist mit dem Vorstellungsende abgelaufen.
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