By Aljona Karas
17.09.2010 / Russische Zeitung
Die in aller Welt bekannte Gruppe von Regisseuren, die das einzigartige Theaterprojekt „Rimini Protokoll“ erfand (gegründet von Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi), hat sich diesmal als Ausgangspunkt für ihre Reise in die Welt der sozialen Realität das „Kapital“ von Karl Marx gewählt.
Und tatsächlich gibt es kein anderes Buch, das in dem Maße Einfluss genommen hat auf die menschliche Zivilisation des 20. Jahrhunderts, und das andererseits so wenig bekannt ist. Muss das nicht eine Herausforderung für sie sein, die in ihrer Theaterpraxis das Prinzip des Schau-Spiels und der Verwandlung ablehnen? Die Beteiligten an ihren Inszenierungen werden zu allem Möglichen, nur nicht zu Schauspielern. Sie sind reale Vertreter sozialer Erfahrungen, „Experten“, wie sie hier genannt werden, sie protokollieren die Realität auf die für den Menschen natürlichste Weise – sie erzählen von ihr.
Im Stück „Karl Marx. Das Kapital, Band 1“ (soll es demnach noch zwei weitere geben?) berichten von ihren Erfahrungen mit dem „Kapital“: der letzte Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der DDR, Thomas Kuczinski; der in Lübeck geborene Filmregisseur Talivaldis Margevics, der in Leningrad und Riga studiert hat und auch als Berater des lettischen Präsidenten tätig war; die Übersetzerin und Theaterwissenschaftlerin Franziska Zwerg aus Berlin (sie beide sprechen im Stück Russisch); Jochen Noth, der an der Studentenbewegung der 60er Jahre teilgenommen hatte, aus Sympathie mit dem Maoismus nach China ging und das ZK des KBW gründete; ein blinder Mitarbeiter eines Berliner Call-Centers, Christian Spremberg; der Spieler Ralph Warnholz, der versucht, von seiner verhängnisvollen Leidenschaft loszukommen …
Die Einrichtung, die mit ihren winzigen Räumen an eine sowjetische Kommunalwohnung erinnert, besteht einerseits aus einer zweistöckigen Bibliothek mit Fensterchen, die gefüllt ist mit Büchern – alle Ausgaben der marxistischen Klassiker, die zu seinen Lebzeiten und danach erschienen sind – und außerdem mit einer einzigartigen Sammlung von Schallplatten, die Christian Spremberg im Laufe seines Lebens zusammengetragen hat. Von Zeit zu Zeit ertastet er eine von ihnen und schaltet den Plattenspieler an: man hört Musik der 50er und 60er Jahre, einmalige Singles, die Folienschallplatten des sowjetischen „Krugosor“ – und was es sonst noch alles gibt. Die Milde, der Humor, die leichte Distanz, mit der diese Menschen von ihren verborgenen Erfahrungen erzählen, bleiben einem um einiges stärker in Erinnerung, als die Geschichten selbst, unter denen es fürwahr auch äußerst dramatische gibt. Der Krieg, die sowjetische Repatriierung, die Güterwagen, die Dissidenten der 70er Jahre; gewaltige Machenschaften der Banken und ihr Bankrott – das ist nur ein kleiner Teil der Sujets, die die „Experten“ anzubieten haben.
Das Organisationsprinzip ihres Spiels mit der alltäglichen Realität ist äußerst raffiniert. Exemplare des „Kapitals“ werden wie eine Bibel an das Publikum verteilt, das nach Wunsch die Zitate in der letzten deutschen Ausgabe mitlesen kann. Die Zitate geben den Rahmen ab für die Geschichten aus den Leben der Menschen. Diese Geschichten werden so erzählt, als hätten sich ihre Repräsentanten schon längst an deren „protokollarischen“ Charakter gewöhnt und sähen sie als Teil der universalen Sozialgeschichte unserer Zeit. Während sie im „Kapital“ blättern, zeichnen unsere Protagonisten von Zeit zu Zeit Zahlen auf seine Seiten – 1968, 1973, 1980, 1989, 1991, 1998, 2001…
Der Werdegang des „Kapitals“, der mit professoraler Gründlichkeit von Thomas Kuczinski vorgetragen wird, wirft seine Schatten auf das Leben des einnehmenden Gelehrten, auf den Musikliebhaber Christian Spremberg und auf alle jene, die sich entschlossen haben, von sich zu erzählen. Die Schallplatte dreht sich, Christian summt leise ihre bekannte Melodie vor sich hin, und eine riesige Welt öffnet sich vor uns. In ihr möchte man ebenso gern über den Sinn eines vorgelesenen Zitats nachdenken, als auch darüber, was es im Schicksal von Generationen bewirkt hat.
Neben anderen Projekten von „Rimini Protokoll“ gibt es eine Geschichte über das Verhältnis der Deutschen und Tschechen in postsowjetischer Zeit, eine Geschichte der Vietnamesen, die bei den ehemaligen „älteren Brüdern“ hängengeblieben sind und mit nachgemachten Tarnanzügen jenes Landes handeln, das einmal einen Krieg bei ihnen angezettelt und sie dazu gezwungen hatte, ans andere Ende der Welt zu fliehen. Das Material zu dieser Arbeit ist weniger ein Protokoll der Realität als das des Lächelns und schrecklichen Zähnefletschens der Weltgeschichte. Und man hat den Eindruck, dass das Theater wieder seinen realen, magischen Sinn bekommt und jeden im Saal in sein Mysterium einbezieht.
Aljona Karas
Russische Zeitung
17. September 2010
Übersetzung Franziska Zwerg