By Siegfried Barth
30.01.2004 / Hannoversche Neue Presse
Tücken der Wahrheitsfindung: Rimini Protokoll inszeniert „Zeugen!“
Berlin. Engagiert modernes Theater bemüht sich um heutige Wirklichkeit. Aber was ist nun wirklich realisitisch? Blut und Gewalt? Sex und nackte Haut? Viel Geschrei? Theater wird dadurch nur theatralischer. Die freie Gruppe Rimini-Protokoll, erfolgreich im ganzen deutschen Sprachraum, geht einen anderen Weg. Der ist eher unspektakulär, aber wirksam.
< So mischten sie Schauspieler unter Passanten (Sonde Hannover, Festival Theaterformen 2000). Die Zuschauer oberservierten sie per Fernglas und erkannten irritiert und fasziniert, wie Kunst und Wirklichkeit verschwimmen, sich verzahnen.
< Sie holten Laien auf die Bühne, Leute von der Straße, und ließen sie von sich selbst erzählen. In „Deadline“ (Hannovers Festival Real Life, 2003) waren das Profis aus dem Bestattungswesen und artverwandten Berufen. Es war ein aufregender, tabufreier Abend zum Thema Tod und Sterben – mit viel mehr Realität, als jede Reality-Show enthält.
< Im Berliner Hebbel-Theater lassen sie nun Juristen und Gerichtspersonal auftreten, ernten viel Beifall und gute Kritiken. „Zeugen!“ ist eine Koproduktion mit dem Schauspiel Hannover. Das Stück, das Rituale und Prozeduren der Wahrheitsfindung ausforscht, läuft ab 7. Februar im Ballhof.
Erstmals stehen zwei Schauspieler mit auf der Bühne, Franziska Henschel und Fabian Gerhardt aus Hannover. Sie agieren zurückhaltend, lassen ihre erlernte Kunst nicht raushängen, um nicht zu Fremdkörpern zu werden im Theater der Laien. Daniel Wetzel, einer der drei Rimini-Macher, mag dies Wort aber nicht, denn „es ist falsch: wir nennen sie nicht Laien sondern Experten“.
Also drehen wir das Ganze mal um: Für Rimini-Protokoll setzt nicht Kunst den Maßstab, sondern Wirklichkeit. Die Bühnen-Neulinge, die sie für jede Produktion mit aufwändigem Casting suchen, verstehen vom jeweiligen Thema mehr als die Macher. Und sie sollen Schauspielerei während der Proben auch nicht lernen.
„Das ist sogar eine Gefahr“, meint Wetzel: „Wenn sie anfangen, eine Art Bühnenroutine zu kriegen, wirds schwierig. Sie haben eine gute Präsenz, solange sie nicht versuchen zu schauspielern. Kunst kann im Vergleich auch kläglich sein. Schauspieler haben mit ihrem Handwerk ziemlich stumpfe Waffen.“
Warum wirken dann Schauspieler mit? Nicht als Mimen, sagt Wetzel, sondern als „Experten des Blicks“. Lange Recherchen sind den „Zeugen!“ vorausgegangen. Prozessbesuche, Interviews, Workshops im Landgericht Hannover und im Berliner Justizzentrum Moabit. Sollten die Schauspieler herausfinden, was am Gericht Theater ist? Wetzel kategorisch: „Es ist Theater!“.
Wichtige Dinge im Leben, die rational und emotional schwer zu verarbeiten seien, bräuchten „theatrale Mittel“. Darum gebe es Sterberituale. Auch vor Gericht, wo „Menschen ihre erbärmlichsten Momente erleben“ gehts nicht ohne Theater.
Der Anwalt, die Zeugenberaterin, der Rentner, der immer auf der Zuschauerbank sitzt – und noch ein paar Leute aus Moabit. Sie setzen ein Bild zusammen, ein Szenarium aus Merkwürdigkeiten und Fallstricken der Wahrheitsfindung. Die Experten sprechen aus eigener Erfahrung. Das Ergebnis der Recherchen ist in einem Manuskript zusammengefasst, das nur Beschreibungen enthält, keine Rollentexte.
„Die würden nur aufgesagt“, weiß Wetzel. Das wäre wieder so ein Theater, das Rimini-Protokoll nicht will. Aber eben, weil sie das vermeiden, gelingt ihnen das Unwahrscheinliche: ein neuer Blick aufs Thema und eine Theaterform, die wirklich neu ist.
Rimini Protokoll: Der neue Weg zur Wirklichkeit
Rimini-Protokoll – das sind die Theatermacher Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel. Sie haben in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studiert. Ihre Idee eines angewandten Theaters entstand aber erst im Jahr 2000 – und machte Furore.
Sie sind erfolgreich auf vielen großen Bühnen und Festivals. Ihr spektakulärster Auftritt war 2003 im Bonner Theatersaal, wo sie eine Bundestagssitzung live „verdoppelten“. Laiendarsteller sprachen Bundestagsreden (die sie über Kopfhörer mithörten) zeitgleich nach. Spektakulär, weil Wolfgang Thierse ihnen den Auftritt im alten Bonner Plenarsaal verweigerte. Daniel Wetzel meint heute: „Das war ein Irrtum. Ein Referent hat uns mit Schlingensief verwechselt.“
Warum der exotische Name „Rimini-Protokoll“? „Das Protokoll ist Programm im doppelten Sinn: als Mitschrift und als Regelwerk“, erläutert Wetzel. „Rimini“ haben sie spielerisch hinzuerfunden. Dass man hinten dreimal „O“ hört und vor dreimal „I“, hat den Machern gefallen. Ein kleines Lautgedicht, wenn man so will. sb
Sagen Bilder immer die Wahrheit? Franziska Henschel (als Gerichtszeichnerin) spricht in „Zeugen!“ über einen schwierigen Job.