»Dann stimmte der Preis nicht«

Schauspiel Düsseldorf: Acht Menschen und »Das Kapital« von Marx

By Hans-Dieter Schütt

16.12.2006 / Neues Deutschland

Wenn ich auf einer Bühne das Leben einfach nur so sehe, wie es ist, ergreift mich eine gewisse Mutlosigkeit: Aha, die da oben halten vom Registrieren mehr als vom Fantasieren. Wer registriert, will beweisen, dass man lediglich registrieren kann. Aber wer etwas erzählt, der ist mutig: Er gibt zu, dass nichts zu beweisen ist.

Die Regie- und Autorengruppe Rimini Protokoll vollbringt seit Jahren das Mitteldingwunder. Sie lässt Menschen aus dem eigenen Leben erzählen. Ausgangspunkt für diese Erzählungen ist jeweils ein bestimmtes Thema. Der jüngste große Erfolg war im vergangenen Jahr »Wallenstein«, darin hatten US-amerikanische Vietnam-Veteranen ebenso Platz wie ein schillerverliebter Fußball-Schiedsrichter, eine Partnervermittlerin und ein Bundeswehrsoldat, ein CDU-Wahlkämpfer und ein Thüringer Polizist. Rimini Protokoll treibt dem Theater das Theater aus, mit Mitteln des Theaters.

Diesmal haben sich Rimini Protokoll / Helgard Haug & Daniel Wetzel für »Karl Marx: Das Kapital, Erster Band« interessiert; es entstand eine Inszenierung für das Düsseldorfer Schauspielhaus. Acht Menschen und ihre sehr persönliche Beziehung zum Geld, zum Glanz und Elend des Mehrwerts, zum Glück des Gewinns und zum Unglück des Verlustes.

Aus soziologischer Forschung, aus dem Graben und Suchen in realen Erfahrungswelten wird bei dieser Theater-Art ein fantasiedurchtriebenes Dokumentarspiel – so, wie es in allen Zeiten eine skeptische Reaktion der Kunst auf sich selbst gab, auf üppige Künstlichkeit, auf den Überdruss des Ästhetischen, auf die lügnerischen Bedrängungen des schönen Scheins. Man mag an das politisch nach Welt greifende Dokumentartheater von Armand Gatti oder Peter Weiss denken oder an eine intimere Authentizität, wie etwa Thomas Langhoffs TV-»Befragung Anna O.«, an Lothar Warnekes DEFA-Spielfilmdokumentarismus, überhaupt an alle Formen der Protokolle-Literatur – bis hin zum Theater des Christoph Schlingensief, der seltsame Leute zu eigenmächtigen Helden einer provozierenden Souveränität mitten in gediegenen, geheiligten Kunsträumen erhebt.

In ein Bücherregal schauen und Menschen sehen. So fängt das hier in Düsseldorf an. Die Menschen sitzen in den Regalen, als wohnten sie da. Eingeordnet, eingetaktet. Regale wie Schubladen. Die Menschen lächeln zu leisem Gitarrenbeat. Sie möchten geheimnisvoll sein wie ein noch ungelesenes Buch. In dem bühnenbreiten Regal steht vielerlei, natürlich, »Das Kapital« – klassisch blau in der Dietz-Ausgabe. Marx und Lenin in Gips und Bronze. Ein Fach ist rot ausgeleuchtet, es steht eine Blumenvase drin. Einen Teil des Regals füllt sogar ein Spielautomat aus.

Jetzt schlurft mit einem Einkaufswagen Dr. Thomas Kuczynski herein, Ökonom aus der DDR, der an einer neuen kritischen »Kapital«-Ausgabe arbeitet. Im Wagen dreizehn große Bücher. »Das Kapital, Erster Band« in Blindenschrift. Die Bände werden gebraucht, denn der Mann, der da an einem Plattenspieler steht, Christian Spremberg aus Hamburg, kann nicht sehen. Kuczynski kann mit den Blinden-Bänden nichts anfangen, Spremberg nichts mit dem blauen Wälzer. Erste Lektion über Wert, Gebrauchswert.

Spremberg legt alte Schlager auf, Biederliedchen aus der frühen bundesdeutschen Werbung; Konsumentenfang, geradezu rührend. Der Blinde, der bei Spreeradio Berlin arbeitete und jetzt in einem Call Center tätig ist, hat sich schon mehrfach bei Jauchs »Wer wird Millionär?« beworben, bislang vergeblich. Wenn schon gesetzmäßig unbetucht, dann wenigstens irgendwann zufällig reich! Ralph Warnholz, Elektriker aus Düsseldorf, lebte lange im Rausch des Glücksspiels, heute leitet er die Selbsthilfegruppe für Spieler in der Diakonie Düsseldorf. Aber Geld kann man auch direkt verbrennen, ohne den Umweg des Spiels. Jochen Noth, Mitgründer des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands, hat es mehrfach vor Passanten getan. Konsumprotest eines Ex-Maoisten, der zum Management-Trainer für asiatische Unternehmen wurde.

Der lettische Filmemacher Talivaldis Margevics, kurz nach dem Krieg in Deutschland geboren, erzählt – übersetzt von der Berliner Dolmetscherin Franziska Zwerg, die ausreiste aus dem deutschen Staat von Marx' Lehren – vom Rückweg in die Sowjetunion. Eine Frau in Polen wollte ihn, für viele Lebensmittel, seiner Mutter abkaufen; sie meinte, der Junge käme nicht durch. Die Mutter blieb standhaft, Margevics: »So wurde ich sehr früh schon mal zur Ware.« Ex-Spieler Warnholz – der eines Tages seine EC-Karte zerschnitt, um sich selber vom Geld abzuschneiden – behauptet, jeder Mensch sei käuflich. »Meine Mutter nicht!«, so der Lette. Antwort des anderen: »Dann stimmte nur der Preis nicht.«

Möglicherweise hätte die Inszenierung noch mehr solcher Konfliktpunkte finden können, um das Flächige der Monologe ins Dramatische zu steigern, in den offenen Widerspruch. So steht, erzählt jeder für sich; der emotionale Sog (wie etwa bei »Wallenstein«) hält sich in Grenzen. Was der Abend bietet, ist ein Kaleidoskop der zahlreichen Arten, in die Kreisläufe des Geldes verstrickt zu werden, das weit mehr durch Träume und Sehnsüchte klimpert, als wir oft wahrhaben wollen. Geldverdienen sei eine harmlose Sache? Je mehr man verdient, desto weniger harmlos – und je weniger man verdient, auch ... Inzwischen ist das »Kapital« in alle Bankreihen verteilt worden, Kuczynski – mitunter eine Art wissenschaftlicher Moderator – liest daraus. Verblüffender, nackter kann Wahrheit übers Heute nicht gesagt werden.

Es ist ein Abend der Dilettanten. Aber der Dilettant ist ein starker Mensch. Die schauspielerische Frechheit, sich von Publikum anschauen zu lassen, nimmt er aus Kräften, die ihm die eigene Biografie liefert. Es sind da Kräfte größter Notwendigkeit am Werke: Ich muss und will sein, wie ich bin. So wird Kraft zur Schwäche: Ich gebe mich preis. Das ist Leistung, die hoch zählt in dieser Zeit.

Ulf Mailänder, Autor in Berlin, schrieb Spekulanten wie Jürgen Harksen die Autobiografie. Wie er Harksens Weg vom Sonderschüler zum Milliardär schildert, als sei es sein eigenes Leben, das offenbart atemberaubend den Realismus als Kriminalgeschichte: die Dinge nehmen, wie sie sind, vor allem, wenn sie einem nicht gehören. Auftritt Sascha Warnecke, der Junge mit dem Che Guevara-Shirt: DKP-Kämpfer, bekennender Revolutionär. Wie beginnt eine Revolution? Vielleicht damit, einen Cola-Becher vor einer McDonald's-Filiale auszukippen.

Acht Menschen reproduzieren Erfahrung. Sie tun es mit dem Risiko, dass daraus ein Muster wird; jede Wiederholung des Abends erhöht dieses Risiko. Das Muster allein wäre Kunstgewerbe. Hier aber, das wird spürbar, nimmt mit besagtem Risiko der Selbstdarstellung die Selbstempfindung zu. Das gelingt nur durch Vertrauen zum Risiko. Auch das ist eine Kunst.


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Karl Marx: Capital, Volume One