By Jens Roselt
03.04.2005 / Goethe-Institut - Online Redaktion
Jens Roselt ging auf die Handy-Theater-Tour "Call Cutta" am Nachmittag des 3. April 2005 in Berlin-Kreuzberg und berichtet hier von einem eher ungewöhnlichem Theater-Erlebnis...
Sie hat eine schöne Stimme. Ich soll sie Honey nennen. Meinen Namen kennt sie bereits, obwohl ich mich nicht vorgestellt habe. Von Anfang an ist klar, dass sie es ist, die weiß, wo es langgeht und dass ich mich ihr anvertrauen muss auf dem Weg durch meine Stadt, die sie nie betreten hat. Zwischen uns liegen 15.000 Kilometer und doch versuchen wir, uns in den nächsten anderthalb Stunden ein bisschen näher zu kommen.
Zunächst werden Höflichkeiten ausgetauscht: Das Wetter in Berlin ist schön. In Kalkutta ist tiefe Nacht. Im Hintergrund höre ich multinationales Stimmengewirr und penetrantes Piepen – die Rushhour im Callcenter. Honey wundert sich über die Stille in Berlin. Sie meint, ich habe eine schöne Stimme. Das höre ich gern, obwohl es eine Lüge ist. Rasch merke ich, Honey ist Profi, am Telefon kann sie einem alles verkaufen: Reisen, Versicherungen und den Glauben daran, eine schöne Stimme zu haben.
Unser Weg ist nicht ziellos. Die Dramaturgie des Trips ist in fünf Akte gegliedert, und sie führt mich zunächst durch das Gebäude der Postbank. Hier gibt es die ersten Verständigungsschwierigkeiten. Der Portier amüsiert sich über meinen ratlosen Blick und weist mir dann lässig den Weg. Ich werde über Parkplätze und durch Parks geführt. Honey behauptet, Vertrauen zu mir zu fassen. Sie will mir ihren wahren Namen verraten: Madusshree. Ich weiß nicht, ob ich ihr das glauben soll. Dann stellt sie mir ihren Großvater vor. Sein Bild hängt im Fenster eines Büros. Er war Soldat im Zweiten Weltkrieg und als solcher auch in Berlin. Ich weiß nicht, ob ich ihr das glauben soll. Madusshree ist sehr um mich bemüht. Bei jeder Straßenüberquerung ermahnt sie mich, vorsichtig zu sein. Auf längeren Strecken singt sie mir ein Lied. Sie führt mich in ein Waldstück auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs und weist mich auf die zugewucherten alten Bahnsteige hin. Von hier aus seien die Züge nach Auschwitz abgegangen. Soll ich ihr das glauben?
Nach der nächsten Ecke wird es peinlich für mich. Ich gelange in den Hof eines Wohnhauses, auf dem Kinder herumlungern. Sie scheinen mich bereits zu erwarten und wissen, dass ich gleich, von einer fremden Stimme geführt, in den Sandkasten spazieren werde, um auf einem Podest erst eine indische Statue und dann einen Tiger nachzuahmen. Dass ich von Zeit zu Zeit „Ich bin dabei!“ rufe, scheint die türkischen Gören besonders zu amüsieren. Ich bin zum Akteur geworden und versuche eine gute Figur zu machen.
Madusshree hat Sinn für Romantik. Sie setzt mich auf eine Parkbank und fragt, ob ich mich in eine Person verlieben könnte, die ich nur durch das Telefon kennen würde. Ich gestehe ihr, dass ich nur ungern telefoniere und im Augenblick zu aufgeregt bin, um über Liebe zu sprechen. Sie beruhigt mich und fragt, warum ich denn aufgeregt sei. Ich gestehe ihr, dass es mir unangenehm ist, nicht zu wissen, was als nächstes kommt und dabei auch noch von spielenden Kindern beobachtet zu werden. Madusshree meint, dass sei doch im wahren Leben genauso: Man weiß nicht, wie es weitergehen wird. Ich verrate ihr, dass ich deshalb so gerne ins Theater gehe, weil es dort üblicherweise anders ist.
Dann stellt mich Madusshree auf eine Brücke über der U-Bahntrasse, wo ich auf den nächsten Zug warten soll. Ich bin etwas mutiger geworden und versuche, die Initiative zu übernehmen, indem ich Madusshree (die gerade wieder singt) frage, ob ich mich vor den nächsten Zug schmeißen soll. Das wäre schließlich romantisch. Sie redet mir das aus und führt mich über Feuertreppen und durch ein Parkhaus in die Ladenpassage am Potsdamer Platz. Dort finde ich ein Schaufenster, in dem ein Computerbildschirm steht, auf dem ich eine lächelnde Frau in einem blauen Sari sehe. Sie winkt mir zu. Es ist Madusshree, die mir eine letzte Anweisung gibt. Mit dem Handy soll ich ein Foto von mir machen, damit auch sie mich sehen kann. Dann eröffnet sie mir, dass es Zeit ist, Abschied zu nehmen – für immer: Bye-bye, Madusshree. Auf Wiederhören, Kalkutta. Obwohl ich auf dem Weg nach Hause schon den nächsten Aspiranten sehe, den Madusshree in den Sandkasten schickt, stelle ich mir vor, dass „unser“ Gang durch die Stadt ein besonderer war, ein Ereignis, das so nur durch uns beide hervorgebracht werden konnte: einzigartig und unwiederholbar – also doch gutes Theater.
Jens Roselt,
Dramatiker und Theaterwissenschaftler an der Freien Universität Berlin.
Copyright: Goethe-Institut, Online-Redaktion
Haben Sie noch Fragen zu diesem Artikel? Schreiben Sie uns!
online-redaktion@goethe.de
April 2005