By Frauke Adrians
03.09.2015 / nachtkritik.de
Ein unterhaltsamer, ein amüsanter Abend über die schlimmste nationalsozialistische Hetzschrift? Mit Rimini Protokoll geht das. Sechs "Experten des Alltags" sind es diesmal, die im Weimarer E-Werk das Stück "Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2" zur Uraufführung bringen. Jeder von ihnen hat eine eigene, höchst eigenwillige Sicht auf Hitlers Machwerk in zwei Bänden. Alle zusammen nähern sich dem Buch, das in Deutschland bislang zwar besessen, aber nicht verbreitet werden darf, auf geradezu spielerische Weise.
Buch voller Judenhass
Schlimmste nationalsozialistische Hetzschrift? Da geht es schon los mit der sarkastisch-abgeklärten Werkkritik: "Es gibt besser geschriebene antisemitische Sachen", spricht der israelische Jurist Alon Kraus mit Kennermiene. Kraus, der "Mein Kampf" während des Studiums nach eigenem Bekunden verschlang und sich sogar von dem von Hitler propagierten Arbeitsethos eine Scheibe abschnitt, bleibt auf selbstquälerische Weise fasziniert von diesem Buch voller Judenhass. Sybilla Flügge, ebenfalls Juristin, bastelte als Kind eine handschriftliche Kurzversion von "Mein Kampf" und schenkte sie ihren Eltern zu Weihnachten. Und Matthias Hageböck, Buchrestaurator an der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek, ist Experte für die editorische und materialkundliche Seite: Wie viele Ausgaben von "Mein Kampf" gab und gibt es, in wie vielen Sprachen? Und wie lange braucht ein im Garten vergrabenes, von Mäusen auf dem Dachboden beknabbertes oder im feuchten Keller verstecktes Exemplar des inkriminierten Buches, bis es sich irreparabel zersetzt?
Der Zuschauer kichert, freut sich an den Skurrilitäten des Stückes in Regie von Helgard Haug und Daniel Wetzel und fragt sich zugleich, ob er das darf: lachen, wenn es um dieses Buch geht. Aber der Witz des Abends entsteht ja nicht durch Bagatellisierung des menschenverachtenden Inhalts – Zitate aus "Mein Kampf" gibt es zuhauf, und zwar nicht nur unfreiwillig komische, auch atemberaubend schreckliche –, sondern dank der schrägen Blickwinkel und ungewöhnlichen Recherchen, die das Material für das Stück liefern. Eine Inhaltsangabe von "Mein Kampf" gibt es zwar auch, die spult Sybilla Flügge so nebenbei herunter. Vielmehr ist es ihr und ihrer jüngeren Juristenkollegin Anna Gilsbach aber um die Rechtsfrage zu tun, was derzeit eigentlich erlaubt ist im Zusammenhang mit "Mein Kampf" – öffentliches Vorlesen? Weitergabe? Vervielfältigung? – und was wohl geschehen wird, wenn der Urheberrechtsschutz Ende 2015 ausläuft und das Buch gemeinfrei wird.
Aura des unbekannten Bösen
Aus solchen Fragen machen die sechs Akteure eine Art Gesellschaftsspiel: Wer der Meinung ist, dass man "Mein Kampf" nach der Freigabe kostenlos verteilen sollte, tritt an den linken Bühnenrand; wer glaubt, dass das Buch für heutige Neonazis noch eine Bedeutung hat, geht nach rechts. Sie spielen nicht nur diese Ja-Nein-Fragen durch, sie spielen auch "Die Reise nach Jerusalem" mit zerfledderten "Mein Kampf"-Ausgaben: Wer das Buch in der Hand hält, wenn Volkan T Errors Musik stoppt, darf als nächster sprechen. Und sie spielen ein Alphabetspiel, das sie zu immer neuen Stichworten führt: R wie Rausch, V wie Volksverhetzung.
Vielleicht ist "Mein Kampf" überhaupt nur so, im Spielerischen, zu ertragen. Auf alle Fälle macht dieser Ansatz deutlich, wie absurd es wäre, Hitlers Schrift mit einer Aura des unbekannten Bösen zu umgeben. Sie wird bald in kommentierter Fassung erscheinen, aber wer will – und es aushält –, kann "Mein Kampf" ohnehin längst im Internet lesen. Druckausgaben bis hin zur kitschigen japanischen Manga-Fassung gibt es in Lettland, Indien, Marokko und der Türkei. In den Armen von Matthias Hageböck stapeln sich die "Mein Kampf"-Bände, die die Theatertruppe in Antiquariaten, Militaria-Läden und auf Märkten in mehreren Kontinenten zusammengetragen hat.
Das Stück ist mit Ausdauer recherchiert und informativ, ohne schulmeisternd zu wirken. Die sechs Theaterlaien auf der Bühne machen ihre Sache gut und bleiben authentisch: der blinde Radio- und Brailleschrift-Redakteur Christian Spremberg, der schon bei der Rimini-Protokoll-Produktion "Das Kapital, erster Band" dabei war und mit feinem Humor und schöner Moderatorenstimme Übelstes aus "Mein Kampf" vorliest; der scharfsinnige deutsch-türkische Politologe und Rapper Volkan Türeli, alias Volkan T Error, der am Keyboard den Sound des Hitlerbuches einfängt ("wie ein brummender Maikäfer, der Bomben abwirft"); Alon Kraus mit seiner Lust an der Konfrontation, Sybilla Flügge mit ihrem trockenen Witz. Es ist ein Vergnügen, ihnen zuzusehen und auf Deutsch, Englisch, Hebräisch und Türkisch zuzuhören, auch wenn Text- und Handlungsabläufe am Premierenabend hier und da merklich haken und der Abend deutliche Längen hat.
Skurril, hintersinnig, detailverliebt
Das Bühnenbild von Marc Jungreithmeier und Grit Schuster ist Spielplatz, Klettergarten und begehbares Kuriositätenkabinett zugleich und erinnert stark an die Aufbauten im Stück "Das Kapital". "Mein Kampf" steht als überdimensionaler Band auf der E-Werk-Bühne, auf der Buchrückseite öffnen sich Nischen und Regalfächer, die Requisiten, Soundtechnik und Bücher über Bücher – videoprojizierte und tatsächliche – preisgeben. Ein kleines Bücherregal unten links ist drehbar wie dasjenige vor dem Eingang zu Anne Franks Versteck in der Prinsengracht. Das Bühnenbild ist wie der ganze Theaterabend: skurril, hintersinnig, detailverliebt – und mit Bedacht so gebaut, dass dem Zuschauer gelegentlich das Lachen vergeht.
Dafür sorgen auch ein paar Parallelenziehungen am Schluss: Hitler schrieb "Mein Kampf" Mitte der 20er-Jahre im Gefängnis; Jahrzehnte später verfassten der Neonazi Michael Kühnen und der erst links-, dann rechtsradikale Anwalt Horst Mahler im Knast ihre Hetzschriften. Woran, fragt das Stück, schreibt eigentlich Beate Zschäpe?
Kritikenrundschau
Rimini Protokoll betrieben ihr Spiel mit "Mein Kampf" "gewohnt seriös und kurzweilig, faktenstark und provozierend", schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (5.9.2015) – "und ein bisschen ist das dann leider so bemüht pädagogisch korrekt wie die 'Sesamstrasse'." Am Ende wisse "man fast alles über 'Mein Kampf' damals und heute, und doch nicht so recht, was man jetzt mit dem Wissen anfangen soll." Das Fazit sei wohl, dass es kein Buch sei, "das verführt, sondern eine Anleitung für Verführer".
Den "machtvollsten Augenblick" erfahre dieser Theaterabend, "wenn sich Alon Kraus zu voller Größe erhebt und die ersten Sätze aus 'Mein Kampf' auf Hebräisch vorträgt", meint Barbara Möller in der Welt (5.9.2015). Ansonsten sei "diese Collage aus persönlichen Erinnerungen, Einspielern (...) und Auszugslesungen vor allem politisch korrekt. Routiniert wie alles, was Helgard Haug und Daniel Wetzel seit Jahren machen. Diesen Dokumentarismus haben sie mit ihrem Theaterkollektiv Rimini Protokoll ja längst zu einer neuen, umjubelten Theaterform perfektioniert."
Dieser Theaterabend reiche "bis ins Heute und stellt unbequeme Fragen", sagt Stefan Petraschwesky auf MDR Figaro (3.9.2015). Zu den Geschichten der Experten kämen noch " ein paar Theatermomente und Tricks hinzu", Rimini Protokoll verstünden schon "ihr Theaterhandwerk". Und auch wenn es "ein paar Behauptungen" gebe, bei denen Dinge verglichen würden, "die man nicht so akzeptieren muss" bleieb unterm Strich "ein Theaterabend, der das Thema interessant aufarbeitet."
"Mein Kampf" von Rimini Protokoll sei "sozial höchst engagiert, bühnenästhetisch eher karg und sprachlich ergreifend schlicht, was aber den Intentionen entspricht: Schillers Theater als moralische Anstalt kehrt bei 'Rimini Protokoll' als didaktisch-partizipativer Workshop der Kategorie 'niedrigschwellig' wieder – mehr Inklusionszone als Tabu-Zone", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen (5.9.2015). Banal werde es, "wenn das Buch auf der Bühne aus dem Netz heruntergeladen, ausgedruckt und feixend einer Zuschauerin überreicht wird – ob das wohl strafbar ist?" Ihre stärksten Momente habe die Produktion immer dann, "wenn der Rapper Volkan und der Israeli Alon für rasante Perspektivwechsel sorgen. Wo gerade noch mehr brav als tapfer die Tabu-Zone feinsäuberlich vermessen wurde, herrscht dann tatsächlich Spannung."
Die Aufführung habe "ein Problem", meint Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung (5.9.2015). Es fehle "den oft hintersinnigen, mehrfach gebrochenen Szenen ein Mittelpunkt, es fehlt dem Abend ein Spannungsbogen. Die dokumentarische Revue folgt den Regeln des Alphabet-Spiels: Eine sagt das ABC auf, einer sagt Stop, dann hat man ein Stichwort: 'Abenteuer', 'Rausch', 'Volksverhetzung'." So werde alles "gut portioniert, der Zuschauer muss sich nicht anstrengen, wird höchstens leicht irritiert, nicht verunsichert. Er erlebt ein nachgespieltes Proseminar."
Der Abend sei "vor allem eine Materialsammlung" und erzähle von den "unterschiedlichsten Möglichkeiten, mit Hitlers Buch umzugehen", sagt Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (4.9.2015). Es sei zwar "ein verdienstvoller Abend, aber kein großes Theater. Die zweistündige Aufführung besitzt allzu viele Längen und etliche Spannungslöcher, und neben manchen Lehrstellen auch Leerstellen."
Man komme als Zuschauer "aus dem Zwiespalt nicht heraus, einerseits voller Ablehnung von der Herleitung [Hitlers] des Judenhasses nichts hören zu wollen, andererseits aber auch zu ahnen, dass man sich das Fortleben solcher Ideologien nicht so einfach vom Leib halten kann", schreibt Katrin Bettina Müller in der tageszeitung (5.9.2015). Das mache diese "kollektive Theaterlektüre sinnvoll, aber auch steif und sperrig. Man bewegt sich gewissermaßen auf Zehenspitzen durch diese Textlandschaft." Die "spielerische Stärke" etwa der "Das Kapital"-Produktion, "die sich ihrem Gegenstand ja mit Emphase nähern konnte, hat der jetzige Abend nicht. Kein Wunder. Er bleibt Anstrengung – aber eine angemessene."
"Mythos, Macht, Verdrängung – legt man das ganz große Besteck mal beiseite, bleibt ein anregender, informativer und zuweilen bewegender Theaterabend", meint Lisa Berins in der Thüringischen Landeszeitung (5.9.2015). Es sei "eine guttuende Distanzlosigkeit, mit der 'Mein Kampf' seziert wird. Eine wirkliche Grenzüberschreitung trauen sich die Darsteller aber nicht. Der Skandal bleibt aus." Es platze "keine Bombe, gezeigt werden aber die vielen kleinen Splitter und Verwerfungen, die dieses Buch bei den Menschen hervorgerufen hat."
"Wo und wie der Nationalsozialismus seine Spuren in den erzählten Lebenswegen" der sechs Rimini-Experten und ihrer Familien hinterlassen hat, das sei "so vielschichtig und zum Teil skurril, dass man einem fiktiven Stück vorhalten würde, es sei unglaubwürdig oder zumindest überfrachtet", mutmaßt Lavinia Meier-Ewert in der Thüringer Allgemeinen (5.9.2015). Am Ende erscheine "die ganze große 'Mein Kampf'-Erwartung wie ein Luftballon, in den man hineinpiekst und aus dem es viele bunte Schnipsel rieselt. Im Bild, das sie ergeben, steckt viel drin; vielleicht ein bisschen zu viel. Es ist eine anregende Auseinandersetzung, klug, oft lustig, gelegentlich etwas länglich, der weniger vorsichtiges Einkreisen, dafür radikaleres Zuspitzen allerdings nicht geschadet hätte."