By Hans-Christoph Zimmermann
13.09.2017 / derFreitag
Ruhrtriennale: 49 Orte und ein Lkw mit Aussicht: Rimini Protokoll erforschen mit „Truck Tracks Ruhr“ den Pott als Projektionsfläche politischer Veränderung
Was wir sehen: eine Wiese in Großaufnahme. Ein Weg. Unkraut. Am Horizont Bäume. Was wir hören: drei Kinder, die eine Wiese beschreiben. Den Wind. Die Grashalme. Hochspannungsleitungen. Menschen. Wald. Das Nichts. Und die eine Vision entwickeln: „Wenn’s meine Wiese wär …“ Die Beschreibung der Kinder und der Blick der Erwachsenen durch die Kamera unterscheiden sich grundlegend. Steht der Raum der Möglichkeiten für die einen noch weit offen, verengt er sich für die anderen radikal auf ein Stück Brachland in einem Industriegebiet in Oberhausen. Schicksal besiegelt.
Britt Hatzius’ Hörstück Blick auf das bewegte Bild formuliert in Kombination mit den Filmaufnahmen von Ulrike Franke und Michael Loeken nicht nur die Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern aus. Es lässt erahnen, dass die Ikonografie des Ruhrgebiets weit mehr Deutungen ermöglicht, als man vermutet.
Hatzius ist eine von 49 Künstlern, die 2016 im Auftrag der Gruppe Rimini Protokoll für 49 Orte im Ruhrgebiet jeweils ein fünfminütiges Hörspiel entworfen haben. Für die Städte Essen, Bochum, Dortmund, Duisburg, Oberhausen, Mülheim an der Ruhr und Recklinghausen entstand so jeweils ein Album mit sieben Stücken. Danach tourte ein zum Zuschauerraum umgebauter Lkw durch die Region. Das Publikum saß auf der Ladefläche, blickte durch eine transparente Außenwand auf die ausgewählten (Nicht-)Orte des Ruhrgebiets und bekam die Kurzhörstücke vorgespielt.
Ein merkwürdiger Traum
Die Filmemacher Ulrike Franke und Michael Loeken (Loekenfranke) haben damals die Tour dokumentiert und das Material zu einer beeindruckenden Videoinstallation verdichtet, die jetzt unter dem Titel Truck Tracks Ruhr – The Compilation im Rahmen der Ruhrtriennale zu sehen ist.
Unter den gewaltigen Schächten der Kohlenmischanlage der Zeche Zollverein hängen sieben Leinwände, auf die die jeweiligen Stadt-Alben projiziert werden. Die Videos machen einen Bogen um die großen Narrative der Montanindustrie, des Strukturwandels oder des melting pots, die als symbolisches Kapital wie als manifeste Ruinen die Identität des Ruhrgebiets mitprägen. Und wenn sie doch einmal angesprochen werden, dann allenfalls als Entschwundene. In Mariano Pensottis Ein merkwürdiger Traum sieht man Bilder des Einkaufszentrums Centro in Oberhausen, das auf dem Gelände der Zeche Gutehoffnungshütte errichtet wurde. Ein früherer Politaktivist erinnert sich an die demütigende Arbeit unter Tage und seine agitatorischen Theateraktionen. Er floh schließlich nach Brasilien und feierte große Erfolge als Filmproduzent. Ob Centro oder Filmindustrie: Der Regen einer falschen Montanidylle wird von der Traufe einer durchkapitalisierten Gegenwart abgelöst.
Die Orte, die die Künstler akustisch bespielen, sind von einer fast provozierenden Alltäglichkeit: Mülldeponie, Straßenstrich, Autowaschanlage, verfallende Häuser. Orte, deren Identität in ihrer Austauschbarkeit liegt. So zeigt Ersan Mondtag (siehe S. 23) in Frei-Bad das hockneyartige Blau eines Schwimmbads in Recklinghausen. Junge, Alte, Liegewiese, Ballspiele, Flirts. Spaß pur. Der Soundtrack wechselt allerdings vom fröhlichen Kindergeschrei in Entsetzensschreie, Explosionen und Maschinengewehrknattern. Gleichzeitig „leert“ sich das Bild: Wasser ohne Menschen, einsame Flipflops, ein düsterer Zaun. In Sebastian Baumgartens und Robert Lippoks Sauber machen wiederum herrscht Hochbetrieb in einer Autowaschanlage im abendlichen Mülheim an der Ruhr. Es wird geblödelt, mit Wasser gespritzt und geschrubbt, was die Bürsten hergeben. Ans Ohr dringt allerdings nicht mehr als ein Soundtrack aus diffusen Geräuschen. Es liegt etwas Gespenstisches über der Szene, das sich verstärkt, als die Anlage plötzlich menschenleer ist.
Schwimmbad und Autowaschanlage könnten für den auswärtigen Betrachter überall sein. Während die Lkw-Touren durch die Fortbewegung noch eine Raumerfahrung und somit ein mental mapping der jeweiligen Stadt zuließen, forciert die Videoinstallation die bedrohliche Identitätslosigkeit der Orte. Detailaufnahmen erschweren die Verortung und dramatisieren zugleich das Gehörte.
Andererseits werden Assoziationen an die amerikanisch anmutende Agglomeration des Ruhrgebiets und die Auflösung der urbanen Identität geweckt. Könnte Dortmund nicht auch in Bochum liegen? Und es taucht die alte Frage von Robert Venturi, und Denise Scott Brown aus ihrem Buch Learning from Las Vegas auf, ob wir der identitätslosen Alltagsarchitektur nicht zu wenig Bedeutung zumessen.
Die Unwirtlichkeit des Heute
Mit der Austauschbarkeit öffnet sich allerdings auch der Raum zum Politischen. So ironisch Gob Squads Aufruf zum Aufstand, zum Zerschlagen der Handys, zum Verbrennen von Banknoten sein mag: Es sind die Bilder des Bochumer Husemannplatzes, die die Sprengkraft bergen. Loekenfranke belassen es hier nicht bei der filmischen Totale des verbauten Platzes, der seine Besucher zwischen Banken und Parfümerien in einem zentralen Cafépavillon zusammentreibt. Das Duo zoomt auf bundesweit anzutreffende Details wie Granitfassaden, Toiletten mit Stahltüren oder trostloses Straßenpflaster, in denen die menschenverachtende Architektur der 1980er Jahre Gestalt gewinnt: Die „Unwirtlichkeit der Städte“ ist Gegenwart. Völlig in die Verallgemeinerung treiben schließlich die ägyptische Theatermacherin Laila Soliman und ihre Partnerin Nancy Mounir ihren Beitrag Ab Ipso Ferro. Zu den nächtlichen Bildern einer Röhrenfabrik in Mülheim an der Ruhr erzählen sie das Märchen vom Prinz des Stahls und vom Paktieren mit Diktatoren, von Korruption und Aufständen. Die Dieselaffäre lässt genauso grüßen wie der Arabische Frühling, für den sich Laila Soliman engagiert hat.
Das Ruhrgebiet wird so zu einer mal ironisch, mal märchenhaft grundierten Projektionsfläche politischer Veränderung. Hoffnung sieht aber anders aus. Selbst die Romantiker unter den Künstlern kommen nicht ohne Bitterstoffe aus: Hans-Peter Litscher lässt Samuel Beckett zu den Kurzfilmtagen nach Oberhausen reisen und vor der Preisverleihung wieder abfahren – angesichts der „grauen Architektur“ nachvollziehbar. Und subbotnik zeigen ein heruntergekommenes Hofareal in Dortmund, in dessen Mitte eine Birke vor sich hin kümmert. Untergehen oder aufblühen? Das Lied von der „gelockten schönen Birke“ lässt keinen Zweifel: Die Tragödie ist unabwendbar.