By Dominique Spirgi
15.09.2015 / Tageswoche
Rimini Protokoll ist zum Markenzeichen geworden für ein Theater, das den geschützten Bühnenraum hinter sich lässt und die Grenzen zwischen Fiktion und Realität durchlässig macht. In «Situation Rooms» wird man als Zuschauer so selber zur Spielfigur im globalen Drama um Waffengeschäft und Waffengewalt. Von Dominique Spirgi
Bei Rimini Protokoll wird der Theaterzuschauer zum Stadtspaziergänger – geführt zum Beispiel von einer sinnsuchenden Computerstimme wie bei «Remote (Basel)» oder ferngesteuert von Mitarbeitern eines indischen Call-Centers wie bei «Call Cutta». Die Dokumentartheater-Macher aus Berlin erklären eine Hauptversammlung der Daimler AG zum Theaterprojekt über den Kapitalismus oder führen durch ein «begehbares Stasi-Hörspiel» («10 Aktenkilometer Dresden»).
Und es lässt die Theatergänger als Player in ein Multiplayer-Videostück über Rüstungsgeschäft und Waffengewalt eintauchen, wie beim Projekt «Situation Rooms», das ab Mittwoch, 16. September, als Programmpunkt der Kaserne Basel in der Dreispitzhalle zu erleben sein wird. Die Produktion fordert jeweils zwanzig Besucher pro Vorstellung auf, Situationen von Menschen nachzuerleben, deren Biografien und Schicksale auf höchst gegensätzliche Art durch das globale Spiel von Waffengeschäft und Waffengewalt geprägt sind.
Auf den Hinterbühnen der Welt
Rimini Protokoll hat das traditionelle literarische Theater mit Zuschauerraum, Vorhang und Schauspielern auf der Bühne hinter sich gelassen. «Wir wollen die Welt nicht auf der Bühne nachspielen, uns interessiert, was auf den Hinterbühnen der Welt abläuft», sagt Daniel Wetzel. Der deutsche Theatermacher ist einer der drei Köpfe von Rimini Protokoll; zusammen mit seiner deutschen Kollegin Helgard Haug und dem Schweizer Stefan Kaegi, der diesen Sommer mit dem Schweizer Grand Prix Theater (ehemals Hans-Reinhard-Ring) bedacht wurde.
Das Bundesamt für Kultur ehrte mit dem wichtigsten Schweizer Theaterpreis für den Schweizer Vertreter indirekt ein Kollektiv, das Pionierarbeit im Dokumentartheater oder der Reality Performance geleistet hat. Seit 2000 arbeitet das Trio zusammen, das sich während des Studiums am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Giessen – der berüchtigten Ausbildungs-Hochburg des postdramatischen Theaters – kennengelernt hat. Und noch immer darf sich Rimini Protokoll zu Recht als ausgesprochen intelligenter und aufregender Vorreiter der wachsenden Dokumentartheater-Szene feiern lassen.
Verzahnte Welt des Waffengeschäfts
«Situation Rooms» lehnt sich im Titel an den berühmten Schnappschuss vom Mai 2011 an, der die gespannten Gesichter von 13 Vertretern der US-amerikanischen Führungsspitze zeigte, als diese aus sicherer Entfernung den Tötungseinsatz gegen Osama Bin Laden verfolgten. Diesen «Situation Room» trifft man – natürlich ohne die Originalprotagonisten – im Multiplayer-Videostück ebenfalls an. Um den Kampf der USA gegen den einst meistgesuchten Terroristen geht es aber nicht. Oder nur am Rand.
«Inhalt und Form des Abends standen bereits fest, bevor wir ihm den Titel gaben», sagt Daniel Wetzel. «Wir wollten das Format der Stadtführungen radikalisieren, indem wir die Besucher gleich durch die ganze Welt führen.» Nicht durch irgendeine Welt, schon gar nicht durch die heile, sondern durch die bewaffnete Welt, wo so viel Schmerz und Elend zusammenkommen, wo der Profit der einen so viele Opfer fordert, wo Kinder zu mordenden Soldaten werden und Helfer am Elend verzweifeln.
Konfrontationen und Rollenwechsel
Das Rimini-Kollektiv hat für «Situation Rooms» beachtliche Recherche-Arbeit geleistet, hat unter anderem einen Schweizer Waffenproduzenten aufgetrieben, einen indischen Drohnen-Lenker, einen pakistanischen Menschenrechtsanwalt, einen Berliner Meisterschützen und Kriegsopfer, die alle aus ihrem Leben erzählen. Bewaffnet mit Kopfhörern und iPad werden die Besucher nun mit den Geschichten dieser Protagonisten konfrontiert.
Und nicht nur das. Sie werden dazu angehalten, die Momentaufnahmen dieser Figuren quasi nachzuleben, konkret die filmisch von Chris Kondek festgehaltenen Videosequenzen nachzustellen. Um dann in regelmässigen Abständen in andere Rollen zu schlüpfen – vom Waffenproduzenten zum Friedensaktivisten, vom Kriegsmediziner zum Kriegsopfer.
Nachgestellte Umgebung
Das klingt nach Augmented oder Virtual Reality. Ist es aber nur zum Teil. Denn hier beweist Rimini Protokoll einmal mehr seine Fähigkeit, mit speziellen Konstellationen immer wieder neu zu überraschen. So hat der Schweizer Bühnenbildner und Raumgestalter Dominic Huber realistisch wirkende Nachbauten von zwanzig Originalszenerien geschaffen, durch die sich die Besucher mit dem iPad in der Hand bewegen. Die Umgebung aus dem Video überlappt sich also mit der physischen Umgebung.
Es ist die erste Zusammenarbeit von Rimini Protokoll mit dem Meister der realen Nachbauten – was eigentlich verwundert. «Dominic Huber steht mit seinen Arbeiten in eindeutiger Verwandschaft zu uns», sagt Wetzel. Tatsächlich hat sich auch Huber inzwischen einen Namen als versierter Nachbildner realer Welten gemacht.
Die von der Kritik als «hybrides Meisterwerk» gefeierte Produktion wurde im Sommer 2013 im Rahmen der Ruhrtriennale in Bochum uraufgeführt und seither in vielen europäischen Städten mit grossem Erfolg nachgespielt.
_
«Situation Rooms» von Rimini Protokoll. Eine Gastspielveranstaltung der Kaserne Basel in der Dreispitzhalle. Jeweils mehrere Vorstellungen täglich, vom 16. bis 27. September 2015.