By Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel)
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Es wird Aufführungen geben, die werden nur in einer Begegnung bestehen.
Publikum wird sich in kleinen Gruppen verabreden und Regeln befolgen, die sich vorher jemand ausgedacht hat und die ihnen von Etappe zu Etappe übermittelt werden.
Es wird Clubs fürs Händeschütteln geben.
Es wird Clubs fürs Schulter-Klopfen geben.
Es wird Clubs fürs Buh-Rufen geben.
Es wird Clubs geben, in denen Stirnrunzeln, Zungeschnalzen aber auch Augenbraue heben und Augen befeuchten kultiviert wird.
Eine Tour wird man buchen können, durch alle Vereine dieser Stadt, wobei man in keinem verweilt, sondern immer genau so lang bleibt, bis jemand gewonnen oder verloren hat.
Die eine Begegnung, die eine Aufführung gewesen sein wird, wird wuchern, sie wird sich über alles legen was war und was kommen wird.
Es wird Aufführungen unter Tischen in Gourmetrestaurants geben. Und vor Toiletten. Und an Müll-Containern.
Theaterfestivals werden nicht in sondern zwischen den Städten aufgeführt werden. An Transitstraßen, Autobahnkreuzen und Tankstellen.
Es wird perfekt inszenierte Banküberfälle geben, die mit einem Applaus vor dem Gefängnis enden.
Es wird ganz subtile Aufführungen geben, die jeweils über eine Nacht ein einziges Detail in deiner Wohnung verändern, um zu überprüfen, ob du es merkst.
Es wird chemische Besprühungen von Zuschauerräumen mit Substanzen geben, die das Publikum in einen anderen Zustand versetzen. Auf der Bühne geschieht nichts, aber je länger der Zuschauer hinschaut, desto sicherer ist er, dass da doch etwas geschieht.
Es wird öffentliche Zerstörungsakte geben von Gebäuden die keine Funktion mehr haben. Jeder Zuschauer mit einem Hammer in der Hand.
In Autocrashtests werden Dummies durch Zuschauer ersetzt. Risikotheater. Wer will schon einen Aufprall verpassen?
Der Begriff des parasitären Theaters wird sich herumsprechen, eines Theaters – so wird es heißen – , das darin besteht Aufführungen des Alltags, die es ohnehin täglich stattfinden, aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen. An allen Universitäten finden Vorlesungen und Seminare dazu statt, und parasitäre Aufführungen wuchern über die Stadt:
- Die Besucherbänke im Gerichtssaal werden sich mit Menschen füllen, die nicht an der Rechtsprechung interessiert sind, sondern an der Darbietungsform.
- Kaufabschlüsse werden in Warenhäusern öffentlich ausgerufen und beklatscht.
- Opernaufführungen wird man nicht nur aus dem Zuschauerraum, sondern für einen anderen Preis und durch einen anderen Veranstalter organisiert, auch aus der Seitenbühne verfolgen können.
- Zuschauer werden einen ganzen Tag im Leben von jemandem buchen können. Sie verbringen dann einen Tag mit einem Fensterputzer oder einen Tag mit einem Stromableser oder einen Tag mit einem Manager.
Theaterautoren werden vor allem damit beschäftig sein, Namen für Aufführungen des parasitären Theaters zu erfinden, damit man es als solches erkennt und im richtigen Moment klatscht, darüber spricht und wieder weitergeht.
Ins Theater werden die Zuschauer vor allem gehen, um beim Umbau zuzuschauen, bei der Licht- und Stellprobe. Mit Richtmikrophonen hören sie den Bühnenarbeitern beim Fluchen zu.
Aber es wird auch vegetarisches Theater geben, in dem nur Pflanzen auf der Bühne stehen. Man schaut dem Grün beim wachsen zu.
Es wird ein Kamintheater geben, das vorne nur ein riesiges Kaminfeuer als Bühne hat.
100 Zuschauer schauen einfach dem Feuer zu. Einige bringen sich Würstchen zum grillen an langen Stecken mit.
In einem mikrobiologischen Theaterlabor werden ganz kleine Schauspieler gezüchtet, damit man Theateraufführungen überallhin mitnehmen kann und die Minischauspieler ihr eingeübtes Spiel überall vormachen können. Sehr populär wird dies bei Langstreckenflügen werden.
Es wird Theateraufführungen für Haustiere geben:
Theater für Hunde, die bei hohen Frequenzen bellen.
Theater für Kühe, die während dem Stück essen.
Theater für Robben, die ununterbrochen klatschen.
In einem weissen Theater voller Fliegen wird ein Tänzer in einem Kostüm aus weissem Fliegenfänger-Stoff solange tanzen, bis er soviele Fliegen gefangen hat, dass er ganz schwarz ist. Und die Zuschauer werden laufend klatschen, um die Fliegen zu fangen.
Spielplätze werden in kleinen Gruppen von Kindern besucht, die sich an den Geräten Szenen ihrer Eltern vorspielen lassen.
Es werden Proben für die eigene Trauerfeier stattfinden, die Jahr für Jahr wiederholt werden, damit sie im Bewusstsein bleiben.
Es wird alte Menschen geben, die nicht alleine sterben wollen und zu ihren letzten Stunden Zuschauer einladen. Das Publikum wird mit Blumen kommen und bis nach dem Tod bleiben. Am Ende wird es keinen Applaus geben.
Jede Brücke wird von Menschen bevölkert werden, deren Aufgabe es sein wird, dir kurze Sätze eines Theaterstücks beim Vorbeigehen ins Ohr zu flüstern, das sich erst auf am anderen Ende der Brücke ganz verstehen lässt.
Es wird Tasttheater geben. An alle Körperteile und -stellen werden kleine Kästen mit Vorhängen gebaut, durch die dann Hände gestreckt werden und erkundet werden kann. Bestseller wird das Ellbogen- und das Schlüsselbein-Stück werden, während gegen das Genitaltheater Beschwerden nicht aus moralischen sondern aus urheberrechtlichen Gründen erhoben wird.
Es wird Textilunternehmen geben, die Kleider aus Bühnenprospekten nähen, das Stück findet dann statt wenn sich alle Besitzer eines solchen Kleidungsstücks in der richtigen Reihenfolge an einem Platz ihrer Wahl aufstellen.
Schauspielschulen werden sich auf Lampenfieber spezialisieren und kunstfertig an
Heiserkeit, Angstschweiß und weichen Knien arbeiten.
Am meisten Zulauf wird der Fachbereich für ‚Blackout’ haben.
Minenfelder werden von mobilen Bühnenportalen umbaut, die Fläche für Fläche so lang umrahmen, bis die letzte Mine entschärft wurde.
Es wird erzwungene Aufführungen geben, für die man über mehrere Tage in einem Zuschauerraum eingesperrt wird.
Länder werden sich Niederlassungen kaufen rund um die Welt, so wie man sich früher Kolonien eroberte. Dorthin können Zuschauer jeweils für eine einwöchige Aufführung gebracht werden.
In jeder Stadt wird es Orte geben, an denen Migranten und Touristen abwechselnd von ihrer Heimat erzählen.
Es wird ganze Familien und Völker von Migranten im Theater geben. Zuschauer werden sie dafür bezahlen, an einem Ort ihre Odyssee zu unterbrechen und innezuhalten. Theater werden zu Ländervertretungen, Auffangstationen, Botschaften.
Es wird Flüchtlingstheaterpublikum geben, das die Fliehenden bei ihrer Ankunft bejubeln und mit Blumen bewerfen werden.
Grenzposten werden um ein Autogramm gebeten.
Es wird ein hart umkämpfter Schwarzmarkt für diese Autogramme entstehen.
An Landesgrenzen werden Zuschauertribünen aufgebaut und mit Feldstechern bestückt.
Die olympischen Spiele werden als ein Visa-Wettbewerb zwischen Einwanderungskandidaten ausgetragen. Die besten jeder Disziplin bekommen zur Siegerehrung den Pass in die Hand.
In anderen olympischen Spielen werden nicht mehr die Sportler sondern die Zuschauer die Teilnehmer sein. Jeder wird rennen, zuhause oder im Zuschauerraum. Und eine riesige Messanlage wird die Resultate festhalten. Nach der Zielgerade erhält der Sieger einen Anruf mit dem Applaus.
In Hotel-Frühstücksräumen werden Gäste so an Tische verteilt, dass sie sich anschließend beim Kellner für die gute Inszenierung bedanken werden.
In anderen Hotel-Frühstücksräumen werden Gäste so an Tische verteilt, dass sich der Kellner hinterher für die gute Inszenierung bedanken wird.
In öffentlichen Verkehrsmitteln werden beim Betreten alle persönlichen Daten der Mitfahrenden erfasst. Zur Unterhaltung der Fahrgäste trägt der Fahrer die Statistiken aber auch die dramatischsten Geschichten aus dem Leben einzelner Fahrgäste vor: In diesem Bus sitzt jemand, der ist ohne Eltern aufgewachsen, jemand, der jedes zweite Wochenende im Gefängnis verbringt, jemand der schon eine Olympiade gewonnen hat, jemand der seit gestern arbeitslos ist, jemand der heute Geburtstag hat...
Suchmaschinen auf Rädern werden Suchende an die Hand nehmen und an das andere Ende dieser Welt führen um ihnen dort den Besuch einer Probe für ein Stück Leben zu erlauben, das vielleicht nie stattfinden wird.
Es wird Gegenüberstellungen ohne Worte geben, bei denen du dir Menschen nur anschaust und dir ihre Geschichte ausdenkst.
Die eine Begegnung, die eine Aufführung gewesen sein wird, wird ihre eigenen Spielregeln erfinden und ständig brechen.
Museen werden Sonderausstellungen mit Theatertickets machen und gut ausgebildete Museumspädagogen werden langwierig über das informieren warum damals nur derjenige in eine Theateraufführung eingelassen wurde, der auch für sie bezahlen konnte.
Es werden ständig wachsende Warteschlangen an Baukränen entstehen. Einzeln dürfen die Theatergäste dem Kranführer hinterher nach oben klettern und die Stadt eine Zeit lang aus seiner Perspektive anschauen.
Nachbarn werden sich gegenseitig Familienstücke vorspielen und hinterher über die klassische Rollenbesetzung lachen.
In Hotels wird man Kettentexte voriger Zimmerbewohner finden, jeder Gast kann den Plot um einen Absatz weiterschreiben.
Geschlechtsumwandlungen werden mit Spannung von Langzeitpublikum verfolgt.
Da sich alle Menschen als Schauspieler verstehen werden, werden alle Menschen für das bezahlt was sie sind: Alte Menschen werden dafür bezahlt werden, alt zu sein, Ureinwohner werden dafür bezahlt werden, Ureinwohner zu sein und Arbeitslose werden dafür bezahlt werden Arbeitslose zu sein. Selbst Alkoholiker werden dafür bezahlt werden Alkoholiker zu sein. Obdachlose werden sich mit Bühnenbildnern treffen und kleine Korrekturen an ihren improvisierten Zelten machen, Requisiteure werden sie zu ihren Einkaufwagen beraten.
Wo es keinen Wald mehr gibt, werden Bäume von Schauspielern gespielt.
Andere werden ausgestorbene Tiere spielen.
Auf den Köpfen von Südländern in klimatisch günstigen Zonen wird Gemüse angepflanzt werden.
Nachts werden die Körper der Menschen selbstleuchtend sein, so sparen sich Städte Strassenlampen.
Es werden Sendepausen für TV- und Radiostationen vereinbart – 5min pro Tag wird nicht gesendet sondern die Fenster geöffnet und Luft hineingelassen werden.
TV- und Radio-Nachrichtensprecher werden bei traurigen Nachrichten weinen dürfen, wenn ihnen danach ist und wenn sie gerne wollen aber nicht mehr können, helfen sie sich mit künstlichen Tränen.
Souffleure werden sich von der Bühne ab- und den Zuschauern zuwenden und Krimassen schneiden.
Die Aufnahmen aller städtischen Überwachskameras werden immer am nächsten Tag zur Kontrolle einsehbar sein. Wer unzufrieden mit seiner eigenen Repräsentation ist, kann die Szene noch einmal besser nachspielen.
In der Nacht werden alle Namen der Bewohner und Besucher jeder Stadt an das jeweils größte Gebäude projiziert – als Abspann für den vergangenen Tag.
Die Welt wird in Arbeitnehmer und in Arbeitgeber eingeteilt werden. Beide Seiten werden durch verschiedene Kleider zu erkennen sein – und sich genau beobachten.
Arbeitslose werden Schiedsrichter dieses Beobachtungskampfs.
Jedes Land wird ein ständig wechselndes Repertoire an Nationalhymnen haben.
Es wird Ausschreibungen und Nachwuchsfestivals für das Texten und Komponieren
geben.
Für jede Form des sozialen Austausches wird es Scripts zu kaufen geben, geschrieben von lebenserfahrenen Autoren.
Es wird Dialog-scripts geben für Ehepaare beim Frühstück.
Scripts für ein Date zum Abendessen.
Scripts fürs Zahnarzt-Wartezimmer.
Scripts für die Konferenzpause.
Und Monologe für Einzelgänger zuhause.
Einige Menschen werden die Scripts auf kleinen MP3-Playern im Ohr mitlaufen haben, so dass du nie ganz sicher bist, wer eigentlich meint, was er sagt.
Das Auswendiglernen von Text wird nicht mehr nötig sein, weil Computer keine externen Geräte mehr sein werden sondern Organe im Körper. Und Bildschirme Teil der Netzhaut.
Menschen, die gerade nach einem Dokument suchen oder etwas tippen, wird man daran erkennen, dass sie mit ihren Fingerspitzen in der Luft tippen.
Menschen, die sich gerade einen Film anschauen, wird man daran erkennen, dass sie mit geschlossenen Augen plötzlich zu lachen oder zu weinen beginnen.
Soldaten werden bei Ihren Einsätzen nicht mehr stimulierende Musik zugespielt bekommen sondern die reuevollen Sätze zu hören bekommen, die für sie Skriptmässig eigentlich erst am Ende ihres Lebens vorgesehen waren.
Zu jeder Strasse wird es einen Soundtrack geben, den du automatisch innerlich hörst, sobald du um die Ecke biegst.
Menschen, die aussehen wie andere Menschen werden für diese Menschen zur Arbeit gehen. Zu den Schwiegereltern. Zum Elterntag. Zur Trauerfeier. Ins Theater.
Es wird Aufführungen geben, zu denen man gar nicht mehr hingeht, sondern von denen man nur weiss. Alle Zuschauer denken gleichzeitig daran und klatschen – wo auch immer sie gerade sind.
Es wird Aufführungen geben, in denen gesagt wird, was es demnächst für Aufführungen geben wird.
Es wird aber auch Gesprächsgruppen geben, in denen man davon erzählt, was Theater
früher war. Einige werden sogar auf eine Bühne gehen und sich Kostüme anziehen, um sich zu zeigen, wie Schauspieler sich damals bewegt und gesprochen haben. Sie werden Texte sprechen. So tun, als wären sie Schauspieler. Zeigen, wie Schauspieler früher Gefühle vortäuschten – und dann lachen.
Die eine Begegnung, die eine Aufführung gewesen sein wird, wird zu Ende sein wenn einer der beiden sagt: das Spiel ist zu Ende.