By Marco Wedig
17.05.2015 / taz.de
Die Theatergruppe Rimini Protokoll inszeniert Europa als kurzweiliges Gesellschaftsspiel. Quizshow und Schokoladenkuchen inklusive.
BERLIN taz | Ein Hinterhof in Neukölln. Unbekannte treffen sich vor einer Haustür. „Wollt ihr auch nach Europa?“ Eine fremde Klingel wird gedrückt, fünf Stockwerke hinaufgestiegen. „Bitte Schuhe ausziehen und hereinspaziert.“ So beginnt „Hausbesuch Europa“, die jüngste Performance des Rimini Protokolls.
Das Kollektiv, das zuletzt mit einer inszenierten Weltklimakonferenz und einer Performance zum Thema Waffenbesitz auf sich aufmerksam machte, betreibt Theater als Versuchsanordnung. Für ihr neues Werk wurden Menschen aus Berlin, Bergen, Lissabon, Poznań und anderen Städten gebeten, ihre Wohnungen zur Verfügung zu stellen. So soll laut der Dramatikerin Helgard Haug ein privater Blick auf Europa gelingen.
Dreizehn internationale Gäste drängen sich um zwei zusammengeschobene WG-Tische, die mit einer selbst gemalten Europakarte bedeckt sind. Zunächst soll jede_r Mitspieler_in drei Punkte einzeichnen und diese verbinden: den Geburtsort, einen Ort mit emotionaler Bindung und einen Ort eines längeren Auslandsaufenthaltes. Schnell entsteht ein buntes Geflecht auf der Karte.
Taktgeber der Performance ist ein selbstgebastelter Apparat. „Sollen wir nun entscheiden, welchen Draht wir durchschneiden müssen“, scherzt ein Teilnehmer. Europa als Bombenentschärfung? Doch auf Knopfdruck spuckt der Apparat nur einen Zettel mit den Spielinstruktionen aus. Dazu fiept eine verfremdete Version von Beethovens 9. Sinfonie aus der schwarzen Box, die vom Spielleiter liebevoll „the evil machine“ genannt wird.
Heute Abend findet die Performance auf Englisch statt. Sie ist in fünf Level eingeteilt. Jedes beginnt mit einer geschichtlichen Nachhilfestunde zur europäischen Integration. In der ersten Spielrunde werden der Gastgeberin Fragen gestellt, die der Apparat auswirft: Warum sie in dieser Gegend wohnt, welche Parteien ihre Nachbar_innen wählen und was es mit dem leicht kitschigen Frauenbild im Esszimmer auf sich hat. Ein erstes Kennenlernen, wenn auch ein oberflächliches.
Level 2: Nun werden alle am Tisch Sitzenden gefragt: Wer engagiert sich in einer NGO, wer hat Angst vor der Zukunft, wer fühlt sich eher als Europäer_in denn als Angehörige_r des Heimatlandes? Zudem sollen sich die Spieler_innen selbst bewerten: „Auf einer Skala von 1 bis 5, wie hoch schätzt du deine Solidarität, dein Vertrauen in die Demokratie oder deine Vorteile durch den freien Markt ein?“
All diese Informationen werden vom Spielleiter festgehalten. Das ist für den weiteren Verlauf des Spiels notwendig, aber auch darüber hinaus. Auf der projektbegleitenden Website sollen in Kürze alle gesammelten Informationen abrufbar sein. So entsteht über die nächsten Monate ein europäisches Stimmungsbild, jenseits aller Sonntagsreden und Krisenberichterstattung.
Der europäische Kuchen, der bei dieser Performance nicht nur Metapher, sondern eine reale Backmischung ist, wird in den Ofen geschoben. Auf Basis der zuvor preisgegebenen Informationen werden die Gäste nun in Zweier-Teams aufgeteilt. Das Spiel bekommt nun den Charakter einer Vorabend-Gameshow. Für richtig beantwortete Quizfragen erhält jedes Team Punkte. Mehr Punkte bedeuten am Ende mehr Kuchen.
Das hinten liegende Team hat zum Schluss die Möglichkeit, eine Grenze auf der Karte zu entfernen, zu verschieben oder einzufügen, um weitere Punkte zu sammeln. Die beiden entscheiden sich dafür, die spanische Grenze nach Süden zu verschieben, damit auf dem afrikanischen Kontinent Asylanträge gestellt werden können. Ein Vorschlag, der von allen goutiert wird.
Am nächsten Abend, wenige Kilometer weiter in einer Kreuzberger Wohnung, ist es die türkische Grenze, die aufgehoben werden soll. Der Antrag findet keine Zustimmung. Die Gruppe ist etwas älter und spielt auf Deutsch. Im Vergleich zu der Spielrunde des Vorabends herrscht weniger Angst vor der Zukunft.
„Was denkst du, was die meisten in dieser Spielrunde als die größte Errungenschaft Europas ansehen?“ In der internationaleren jüngeren Gruppe antworteten die meisten mit der Bewegungsfreiheit, die durch die offenen Grenzen gewährleistet ist. In der älteren nennen alle den Frieden. Ein willkommener Anstoß zum Gedankenaustausch.
Doch substantielle Diskussionen kamen nicht auf. Alle hielten sich an das durch den schwarzen Apparat vorgegebene Protokoll – außer bei der Kuchenverteilung. An beiden Abenden wird der Kuchen nach zwei Stunden, die Punkteverteilung missachtend, in gleichgroße Stücke geschnitten. Europa als Solidargemeinschaft.
Im Laufe der Performance sollten die Mitspieler_innen die Augen schließen und sich einen Ort vorstellen, an dem Europa nicht funktioniert. „Ich glaube, wir haben alle den gleichen Ort vor Augen“, sagte ein Teilnehmer. Erst beim Verlassen der Wohnung zeigt sich, dass es tatsächlich unterschiedliche Orte waren. Eine Mitspielerin dachte an Brüssel, ein andere an Griechenland, einer an das Massengrab Mittelmeer.
Was also ist Europa? Ein Gesellschaftsspiel für die ganze Familie? Ein Backmischungskuchen, um dessen Stücke sich die Europäer_innen streiten? An beiden Abenden, für die das Rimini Protokoll den Rahmen steckte, präsentierte sich Europa vor allem als ein von Apparat und Spielleiter durchgetaktetes System, das wenige Debatten zulässt – durchaus übertragbar auf die tatsächliche politische Situation der EU.
Doch vielleicht gibt es auch Gruppenkonstellationen, die sich über die Spielstruktur hinwegsetzen. Schon allein, um das herauszufinden, lohnt es sich, diesem Experiment beizuwohnen.
Und wie schmeckt er nun, der Kuchen Europa? Am ersten Abend mittelmäßig, zu lange im Ofen gelassen, am zweiten auf den Punkt durchgebacken und schön schokoladig.