By Christian Deutschmann
19.11.2007 / FAZ
Die Euphorie, die die Theatergruppe „Rimini Protokoll“ entfesselt, zielt aufs Ganze. Papas Theater ist tot, alle Macht den Neuen, heißt es sinngemäß, und Etikettierungen wie „theatralisches Readymade“, „Theateraktion“ oder „Theater der Experten“ sind hoch im Kurs. Tatsache ist: Diese Inszenierungen entstehen in Abgrenzung gegen das Theater. Wenn gewöhnliche Menschen auf der Bühne erzählen, wird Alltagsleben eins zu eins auf die Bühne verpflanzt, erst Anordnung und ontage schaffen, was ein Stück ausmacht: Bedeutung und Transparenz.
In „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“, nun im Radio, versammeln sich Leute, die dem Klassiker verbunden sind, sei es, dass sie ihn gelesen haben, sie es, dass sie vor der Lektüre kapitulierten oder dass sie sich in ihrem Leben Entsprechungen zu Marx finden. „Da Kapital“, ins Leben geführt, dem es entwuchs: Einer – der Wirtschaftsprofessor Thomas Kuczynski – kennt es aus dem Effeff und überlegt, was herauskäme, würde man das Buch in den 54 Minuten dieses Hörspiels vorlesen: eine Zehntelsekunde pro Druckzeile. Ein anderer, von Geburt an blind, ertastet sich das Werk; eine Prostituierte erzählt, dass bei ihren Eltern Marx-Bände herumstanden, und tummelt sich nun hier, wohl weil sie selber zur Ware ward. Ebenso wie jener russisch sprechende Mann, der daran denkt, wie er als Kind beinahe von seiner Mutter gegen Lebensmittel eingetauscht wurde.
Was wir hören, sind nur Stimmen, die schwer auseinanderzuhalten sind, während Biographien auf Sketchformat schrumpfen. Gutgelaunt werden alte Zeiten beschworen. Man fällt sich ins Wort, kabbelt sich, legt Platten auf. Bei alledem geht es demokratisch zu, Gutverdienende, Hartz-IV-Empfänger, Experten, Unbeleckte, westdeutsche Altlinke und Überlebende des realen Sozialismus verstehen sich prächtig.
Das Hörspiel „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“ von „Rimini Protokoll“ durchwandert Missverständnisse und Mythen, liefert ein bisschen Philologie, ein bisschen Zeitgeschichte, ist in der schillernden Integration wesensfremder Elemente ernsthaft und komisch zugleich und – sehr vergnüglich.