By PATRICK WILDERMANN
20.12.2019 / www.tagesspiegel.de
Es ist gar nicht so leicht, Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel am selben Ort anzutreffen. Oder auch nur in der gleichen Zeitzone. Nicht mal, wenn das 20-jährige Jubiläum ihrer Gruppe Rimini Protokoll bevorsteht.
Haug sitzt an einem vernieselten Dezembervormittag im Berliner Büro in Kreuzberg vor einer Tasse Kaffee, die Kollegen sind per Skype aus Hongkong zugeschaltet. Kaegi trägt das Notebook durch den Proberaum im West Kowloon Cultural District, ein boomendes Theater-Areal, und zeigt den Blick auf die abendlich erleuchtete Skyline des Festlandes.
Erst kürzlich gab es hier um die Ecke eine Demo mit massivem Tränengas-Einsatz, wenige Tage vor dem Gespräch haben wieder 800 000 Menschen protestiert, diesmal blieb es friedlich. Eigentlich wäre es die perfekte Zeit für Theater, findet Kaegi, „um zu erleben, dass die Leute Dissens im gleichen Raum miteinander gut aushalten können“.
Ihre Produktion „100 Prozent Hongkong“ ist nun aber auf den kommenden Sommer verschoben, wegen aktueller Sicherheitsbedenken. Manchmal grätscht die Politik der Kunst in die Beine. Aber das kennen Rimini Protokoll schon.
Haug, Kaegi und Wetzel sind die Weltreisenden der freien Szene, aufgebrochen vor 20 Jahren in Gießen, am Institut für angewandte Theaterwissenschaften. Wobei ein konkretes Gründungsdatum ihrer Gruppe schwer zu benennen ist. Die drei haben schon in wechselnden Konstellationen miteinander gearbeitet, bevor es das Label Rimini Protokoll gab.
Als Referenz fürs Jubiläum dient die erste Produktion, die sie zu dritt auf die Beine gestellt haben, „Kreuzworträtsel Boxenstopp“. Ein Stück, das die präzise getimten Abläufe eines Formel-1-Rennens mit dem Alltag von vier über 80-jährigen Bewohnerinnen eines Frankfurter Wohnstifts zusammenschloss und in den gegenläufigen Geschwindigkeiten durchaus überraschende Parallelen entdeckte.
Das Projekt zwang die Künstler auch zur frühen Positionsbestimmung des eigenen Vorhabens. Weil eine der Seniorinnen im Heim wissen wollte, was denn das bitteschön für ein Theater werden solle. Kein fertiger Text, keine Schauspieler? „Das ist wie ein Dokumentarfilm“, gaben sie – eher als gedankliches Stützkorsett – zur Antwort.
Der Begriff Dokumentartheater trifft ihre Arbeit zwar nicht wirklich, schon gar nicht Laientheater. Weswegen sie irgendwann das Gütesiegel „Experten des Alltags“ für ihre Performer erfanden, das längst tausendfach nachgedruckt, jedoch nie durch Passgenaueres ersetzt wurde.
Aber wie soll man es auch nennen, wenn beispielsweise die Hauptversammlung der Daimler AG in der ICC Messe Berlin kurzerhand zum „Schauspiel in 5 Akten“ erklärt und Dieter Zetsche auf dem Programmzettel in der Rolle des Vorstandsvorsitzenden geführt wird? („Hauptversammlung“, 2009).
Oder wenn eine Berliner Bundestagsdebatte live auf die Kopfhörer von Performern in Bonn übertragen wird, die sie Wort für Wort nachsprechen? („Deutschland 2“, 2002). Oder wenn Theaterbesucher in Berlin von einem indischen Callcenter aus am Mobiltelefon durch Kreuzberg gelotst werden? („Call Cutta“, 2008).
Rimini Protokoll haben es von Beginn an verstanden, den vorgefundenen Realitäten einen künstlerischen Rahmen zu geben, der sie selbst mit ins Bild rückt. Ihr Forschungsinteresse wird dabei ebenso reflektiert wie die Frage, was das Mitwirken am Projekt für die Beteiligten bedeutet.
Seien es bulgarische Lastwagenfahrer, nigerianische Entrepreneure oder kasachische Ölbohrer. Es geht nicht um die Abbildung der oft globalen Zusammenhänge. Sondern darum, sich zu diesen ins Verhältnis zu setzen. Auch als Zuschauer.
Rimini Protokoll – die ihren ersten größeren Karriere-Boost mit der Einladung des Sterbe-Stücks „Deadline“ zum Theatertreffen 2004 erlebten – haben damit einen bis heute anhaltenden Wirklichkeits-Hype auf deutschen Bühnen befeuert, der allzu oft dem Missverständnis unterliegt, das vermeintlich Echte sei schon Garant für Relevanz. Aber dafür können die drei natürlich nichts.
Die Gruppe ist damals in Gießen ja nicht mit dem Plan angetreten, die Kunstwelt auf den Kopf zu stellen. „Wir hatten höchstens einen Plan, wo wir nicht hinwollten“, sagt Haug. „Es war klar, dass wir uns alle nicht in etablierten Betrieben gesehen haben, im vorgegebenen Berufsbild“.
Wetzel findet, das Rimini-Theater sei gerade dort ein „Ort der Irritation“, wo es nicht revolutionär zuginge, sondern die gemeinsam verbrachte Zeit im Fokus stünde. Die ungefilterte Gegenwart, die im Titel des anstehenden Geburtstags anklingt: „Jetzt feiern“.
Wenn es so etwas wie eine Rimini-Formel gibt, dann lautet sie: „Erfahrungen machen mit Leuten, denen man nie begegnet wäre, an Orten, die man nie besucht hätte.“ Das Paradebeispiel dafür ist der Export-Schlager „100 Prozent Stadt“, den Haug, Kaegi und Wetzel (die bis heute abwechselnd solo, zu zweit oder zu dritt arbeiten) schon rund um die Welt, zwischen São Paulo und Plovdiv in Bulgarien, adaptiert haben.
„100 Prozent Berlin“ wird im Kontext des Jubiläumsprogramms neu aufgelegt. Je hundert Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt stehen bei diesem belebten Zahlenspiel auf der Bühne und geben Statistiken ein Gesicht, gruppieren sich nach bestimmten Fragestellungen.
Wobei diese ortsspezifisch angepasst werden müssen. In Russland oder Malaysia wird sich zum Beispiel kaum jemand zur Frage melden „Wer möchte sich outen?“. Weswegen Rimini Protokoll dazu übergegangen sind, in eher repressiven Gesellschaften Dunkelszenen einzubauen, in denen die Leute per Taschenlampen-Zeichen ihre Zugehörigkeiten bedeuten können. Es sei allemal besser, auch in Kulturen mit Demokratiedefizit im Dialog zu bleiben als gar nicht erst anzureisen, findet Kaegi.
Klar, die Zensoren in islamischen Ländern hatten an seiner Arbeit „Radio Muezzin“ – diesem Patchwork aus Gebetsrufer-Biografien – stets irgendwas auszusetzen. Und in China ist mal eine Adaption des Stücks „Karl Marx – Das Kapital“ einen Tag vor der geplanten Anreise der Theatermacher abgesagt worden, weil neue Texte entstehen sollten, was den Behörden nicht geheuer war.
Aber die Maxime bleibt „mit Widerständen produktiv umzugehen“, so Wetzel. Zu den vergleichsweise niedrigen Hürden zählt da eine Verschiebung des Premierenbeginns um sieben Minuten (bei „Wallenstein“), weil eine beteiligte Astrologin dem Stück dann bessere Erfolgsaussichten vorhersagte.
In 20 Jahren sind Rimini Protokoll dabei nicht nur international durchgestartet. Sie sind auch ein bisschen über die freie Szene Berlins hinausgewachsen, in der ja neue Gruppen mit vergleichbarer Strahlkraft (wie Performer von She She Pop und Gob Squad) weiterhin stark gefragt sind.
Das HAU bleibt zwar Basis (hier läuft zum Jubiläum ihr globaler Waffenhandel-Parcours „Situation Rooms“), aber Arbeiten von Haug, Kaegi und Wetzel sind in den kommenden Wochen auch im Haus der Berliner Festspiele („Uncanny Valley“), am Gorki („Granma“) und am Grips („Bubble Jam“) zu sehen.