By Patrick Wildermann
08.07.2012 / Tagesspiegel
Auf dem Plakat am Bahnhof steht „Feel like at home“. Lachende Fußballfans sind darauf zu sehen, geschminkt in den Farben ihrer jeweiligen Nation. Englische Gesichter, spanische, polnische. Das Versprechen der Gastfreundschaft gilt natürlich weiter, auch nach dem Abpfiff. Die Europameisterschaft 2012 hat Spuren hinterlassen in Poznan, nur zweieinhalb Zugstunden von Berlin entfernt, auf halber Strecke nach Warschau. In der Einkaufszone Polwiejska sind die Läden noch reichlich mit Trikots bestückt, im Supermarkt der Shoppingmall Stary Browar stapeln sich die Schokolodenfußbälle. Und auf dem Plac Wolnosci, dem zentralen Platz der Freiheit, steht noch die VIP-Tribüne fürs Public Viewing.
Die Stadt an der Warthe war Gastgeber der Gruppe C, Italien, Irland und Kroatien haben hier ihre Spiele ausgetragen, auf der offiziellen Homepage Poznans wurde längst Jubelbilanz gezogen. Über 450 000 Besucher hätten die Matches in der Fanzone verfolgt, heißt es. Und aus dem irischen Forum „You Boys in Green“ wird der stolze Eintrag eines gewissen „GreenDevil“ zitiert: „Ich habe mich in das Land verliebt“.
„Mit der Energie der EM hätten wir nicht konkurrieren können“, lächelt Michal Merczynski, der Direktor des Malta-Festivals, das seit über 20 Jahren in Poznan stattfindet und in diesem Jahr seinen Stammtermin Ende Juni bereitwillig auf Anfang Juli verschoben hat. Das Malta-Festival zählt zu den wichtigsten Theaterereignissen des Landes, es verdankt seinen Namen einem stadtnahen See, an dessen Flanke vor Zeiten eine Kapelle der Malteserritter angesiedelt war. Merczynski ist zwar kein Fußball-Aficionado, aber der Imagegewinn durch die EM freut ihn, wie die Mehrheit seiner Mitbürger: „Wir haben das Examen bestanden und gezeigt, dass wir in der Lage sind, ein internationales Sportereignis dieser Größenordnung zu organisieren.“
Weltläufigkeit ist eine Währung, die sich auszahlt. Ganz gleich auf welcher Bühne. Merczynski, der umtriebige Kulturmanager, denkt selbst nur in großen Dimensionen. Er hat fürs diesjährige Festival die Uraufführung von Nicholas Lens’ Oper nach dem Roman „Slow Man“ (Zeitlupe) des südafrikanischen Nobelpreisträgers J. M. Coetzee angestoßen – und den öffentlichkeitsscheuen Schriftsteller zu Premierenbesuch und Diskussionsteilnahme überredet. Er holt zugkräftige musikalische Acts in die idyllische Arena am Malta-See, wie die amerikanische Band Faith No More mit ihrem furiosen Frontmann Mike Patton. Und er hat sein Festival in den Kreis der bedeutenden Koproduktionspartner geführt, auf Augenhöhe mit Avignon, den Wiener Festwochen, dem Kunstenfestival in Brüssel und dem Berliner HAU. Maltas Anspruch: grenzenlos global. Das Festival-T-Shirt stammt in diesem Jahr aus Nordkorea, aber dazu später mehr.
„Asien Investments“ ist die Reihe „Idiom“ betitelt, seit 2010 das Malta-Herzstück mit Stücken zu einem Themenschwerpunkt. Das Plakat zeigt übereinandergestapelte Container. Auch Theater ist Frachtgut für den internationalen Import-Export. Als Kurator für diese Cargo-Kunst hat Merczynski passenderweise Stefan Kaegi gewonnen. Der ist als Mitglied der Gruppe Rimini Protokoll ja selbst Teil eines weltweit operierenden Dokumentartheater-Unternehmens mit besonderem Faible für die Dialektik der Globalisierung. Der Originaltitel seiner Reihe lautet „Akcje Azjatyckie“, was den Doppelsinn von Aktion und Aktie birgt. Kaegi wollte auf keinen Fall exotische Folklore auffahren, wie Sidi Larbi Cherkaoui, ein Flame marokkanischer Herkunft, der in Avignon virtuos die Shaolin-Mönche tanzen ließ. Sondern die spannungsreiche wirtschaftliche Dimension des europäisch-asiatischen Verhältnisses durchmessen.
Ein Kontext, der unmittelbar mit der polnischen Gegenwart verbunden ist. Erst im letzten Jahr gab es ja einen Skandal, als der chinesische Staatskonzern Covec aus strittigen Gründen die Arbeiten an der neuen Autobahnstrecke zwischen Berlin und Warschau hinwarf – eine der wichtigsten EM-Trassen. Nicht gerade Brückenbau zwischen den Völkern.
Alles Malt: Straßenperformance, Container-Installation und Finankrisen-Farce
Kurator Kaegi dagegen behält Poznan im Blick. Das Malta-Festival ist ja seinem Wesen nach ein Stadttheaterereignis, das hat er nicht vergessen. Es gibt Hörspiele an öffentlichen Plätzen, eine Straßenperformance der französischen Gruppe Ex Nihilo, eine Container-Installation von Dries Verhoeven mitten in der Altstadt. Fast immer sind lokale Performer beteiligt. Wie jene asiatischstämmige, in Poznan beheimatete Künstlerin, die während der Verhoeven-Performance stoisch die Nerven behielt, während um sie herum Betrunkene munter pöbelten und versuchten, sich gegenseitig in den Proserpina-Brunnen zu stoßen. Ein Clash der Welten. Die Szene hat Kaegi gefallen.
In der Ojisan Milk Bar ist das Licht gedämpft. Das kleine asiatische Lokal, dessen Front mit koreanischem Barbecue wirbt, ist der Schauplatz von Ant Hamptons Performance „Elsewhere, Offshore“. Zwei Zuschauer nehmen Platz, einander zugewandt, zwischen sich Plexiglasplatten, die als Projektionsfläche dienen. Bald wird das Gegenüber mit dem Gesicht eines Chinesen überblendet. Eine rätselhafte Erscheinung aus den Tiefen des World Wide Web. Es beginnt ein surreal schwebender Chat, in dessen Zuge sich herausstellt, dass der Fremde einer jener Arbeiter ist, die in China bei der Fertigung von Apple-Displays mit der Chemikalie n-Hexan vergiftet worden sein sollen. Eine mittlerweile widerlegte Behauptung – und in ihrer Symbolik doch der verstörende Einbruch einer Wirtschaftswirklichkeit in die Kunst, die sich um niedrige Löhne, nicht aber um die Sicherheit von Arbeitern sorgt.
Im Gebäude der Firma Concordia Design wird die Grenze zwischen Bilder- und Businesswelt gänzlich aufgelöst. Dirk Fleischmann ist ein Unternehmer neuen Typs, der Kunst in Frankfurt studiert hat. Er betreibt Projekte, die sich selbst oder gegenseitig finanzieren – eine Solaranlage, eine Hühnerfarm, ein Wiederaufforstungsprojekt auf den Philippinen. Präsentiert in der Aktion „mysaleshow“, wo man sie auch mit barer Münze unterstützen kann. Indem man eine mit Solarenergie gespeiste Lampe kauft oder ein Öko-Hühnerei. Außerdem lässt Fleischmann Mode in Nordkorea fertigen, die wiederum nur in ausgewählten Läden oder im Ausstellungszusammenhang angeboten wird.
In der Sonderwirtschaftszone Kaesung, einer Ausgeburt der bereits wieder überschatteten Sonnenscheinpolitik zwischen den verfeindeten Koreas, arbeiten südkoreanische Firmen mit nordkoreanischen Arbeitern. Hier ist auch das diesjährige Malta-Festival-Shirt genäht worden. Fleischmann hat die Fertigung gefilmt, er hatte nur die Auflage, keine Gesichter in Großaufnahme zu zeigen. Die Ökonomie überwindet Grenzen, wo der Pass versagt. Und die Moral von der Geschicht? „Künstler zeigen die Dinge“, entgegnet Fleischmann, ohne eine Miene zu verziehen. „Sie bewerten sie nicht.“
Michael Merczynski sagt, ein Fußballfest wie die EM helfe, Ressentiments zu zerstreuen. Ein Beispiel? „Im Halbfinale gegen Italien haben wir alle Deutschland die Daumen gedrückt. Ihr hattet eine tolle Mannschaft.“ Doch auch nach dem schönsten, friedlichsten Fest kommt der Kassensturz. Dass viele Kommunen sich für die Infrastruktur verausgabt haben und an der Kultur sparen könnten, diese Gefahr sieht auch Merczynski. Wenngleich er beruhigende Signale aus der Politik bekommt. Das Malta-Festival verfügt über ein Budget von umgerechnet zwei Millionen Euro, so soll es bleiben, toi, toi, toi.
In der Handwerkskammer von Poznan performen derweil Chris Kondek und Christiane Kühle unter Jubel ihre Finanzkatastrophen-Farce „Money – It Came From Outer Space“, in der sie die Bankenkrise mit Sciencefiction-Trash à la „Das Ding aus einer anderen Welt“ kurzschließen. Und das Geld zur außerirdischen Bedrohung erklären. Merczynski bleibt gelassen. Das Wort Euro verbinden sie in Polen derzeit mit keiner Krise. „Wir zahlen ja noch in Zloty“, sagt der Festivalmacher und lächelt.