By Ulrike Borowczyk
10.01.2020 / www.morgenpost.de
Die Drehbühne rotiert unaufhörlich und bringt immer neue Gesichter ans Mikrofon nach vorn. Insgesamt 100 Berliner zwischen gerade geboren und 85 Jahren. Ein sympathischer, bunter Haufen. Aus allen Alters- und Bevölkerungsschichten. Aus jedem Bezirk und vielen Nationen. Alle stellen sich mit Namen, Alter und besonderen Merkmalen vor. Sie sind der Querschnitt Berlins. Zumindest nach streng statistischem Proporz. Anfangs nimmt man sie als Masse wahr. Es sind nur wenige, an die man sich auf Anhieb erinnert. Wie Ping-Hsiang Wang, Wahl-Berliner aus Taiwan. Sein Name rauscht vorbei. Aber sein bunter Hochzeitsschleier, der im Dunkeln leuchtet, brennt sich ins Hirn. Oder Julian. Er ist zwölf Jahre alt. Und war schon 2008 dabei, als 100 Berliner Statistik auf der Bühne lebendig gemacht haben. Damals noch im Babybauch seiner Mutter. Seither habe sich alles für ihn verändert, wie er augenzwinkernd erklärt.
Vor zwölf Jahren hat das Theaterkollektiv Rimini Protokoll schon einmal mit „100% Berlin“ auf der Bühne des HAU1 die Stadt in ihrer Komplexität und Vielfalt abgebildet. Danach ging die Erfolgsproduktion rund um die Welt. Jetzt, zum 20. Geburtstag von Rimini Protokoll, präsentiert das Autoren-Regie-Team Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel mit „100% Berlin reloaded“ erneut einen theatralen Mikrozensus. Und zeigt ein anderes Bild der Stadt. Die ist bunter, jünger und einsamer geworden. Aber auch dreckiger, voller und lauter.
Von den Berlinern, die 2008 dabei waren, sind 37 wieder mit von der Partie. Zwei sind verstorben, einige weggezogen, andere nicht mehr auffindbar. Auch das ist Statistik. Wenngleich man den Begriff hier sehr locker auslegen sollte. Wieder musste im Vorfeld festgestellt werden, dass Spandau und Berlin in verschiedenen Galaxien leben. Mehr noch: Bis zum Schluss fehlte ein verheirateter Spandauer zwischen 75 und 100. Letztlich wurde ein Statist aus Charlottenburg verpflichtet, der nun den Spandauer gibt. Kurios.
Überhaupt ist es trotz einiger Längen recht kurzweilig, die lebendigen Torten- und Blockdiagramme zu sehen, die sich immer neu anordnen. Man erfährt natürlich Erwartbares. Etwa, dass 51 Prozent der Berliner weiblich, 49 Prozent männlich sind. Mohammed allerdings fällt durchs Raster. Er ist queer. Das ist neu im Gegensatz zu 2008. Wie auch die Frage, wer umziehen musste, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte. Rund 75 Prozent würden gern Immobilienkonzerne enteignen, um Wohnen bezahlbar zu machen.
Es werden nicht nur aktuelle Strömungen abgebildet, sondern auch viele Fragen gestellt. Man erfährt, wer für die Todesstrafe ist, sexuelle Nötigung erlebt hat oder an Außerirdische glaubt. Dafür versammeln sich die Teilnehmer dann jeweils unter dem Schild „Ich“ oder „Ich nicht“. Das ist mal berührend, mal schräg. Irgendwann kennt man die Gesichter der 100. Sie sind keine Masse mehr. Sie sind Berlin.