Zweimal Schauspielkunst vom Feinsten

Eine großartige „Wallenstein“ - Version und Händl Klaus' „Dunkel Lockende Welt“

Von M.Schiller/ A. Seegers

06.06.2006 / Hamburger Abendblatt

FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmeier (genau, der mit dem Spiralblöckchen) glaubt im Gießener Studiengang für Angewandte  Theaterwissenschaften die „größte Unglücksschmiede des deutschen Theaters“ erkannt zu haben. Er konnte nicht deutlicher irren. Als absolutes Highlight der Autotheatertage 2006 jedenfalls muß das Gastspiel der in Gießen gegründeten Gruppe „Rimini Protokoll“ (in Kooperation mit dem Nationaltheater Weimar und dem Schauspiel Mannheim) gelten, denn soviel Authentizität im Theater ist selten.

In „Wallenstein – eine dokumentarische Inszenierung“ gelingt Rimini Protokoll im Thalia in der Gaußstraße das, was andere so oft vergeblich anpeilen: die vollkommen schlüssige Verbindung zwischen Klassiker und Gegenwart. Was Wallenstein mit uns zu tun hat? Alles. Das schmutzige Geschäft der Politik, den unbeständigen Wert der Treue, Suche nach der Vaterlandsliebe, Gefolgschaft der Truppe, die Themen Ehrgeiz und Macht, Krieg, Moral und Einsamkeit. „Wallenstein“ wird in  der Mannheim-Weimarer Persönlichkeits-Courage  nicht nachgespielt – weil die Reclamversion in dieser Konstellation kaum noch nötig ist. Überflüssig geworden ist sie indes ebenso wenig: Sie dient als theoretischer Unterbau, als Klammer und raffinierte Struktur. Helgard Haug und Daniel Wetzel aber holen sich nicht das Abbild von Wirklichkeit, sondern die Realität selbst auf der Bühne – ohne sie dabei bloß vorzuführen: den Ex-Zeitsoldaten, die   Vietnam-Veteranen, den amtierenden Polizeichef von Weimar, die Astrologin, den einstigen Flakhelfer, den eifrig gegen Liebeskummer anrezitierenden Schiller-Fan, die Chefin einer Seitensprung-Agentur und – es ist kaum zu glauben – den ehemaligen Mannheimer Oberbürgermeisterkandidaten der CDU. Nicht als Figuren, kein „als ob“. In echt. Alle, auf ganzer Linie. Sie stehen auf der Bühne und erzählen ihre persönliche Geschichte. Es sind Geschichten über Krieg und Verrat, über Scheitern und Mut, und über die Political Correctness von Spaghetti mit Tomatensauce. Daß die Mitwirkenden sich trauen, sich derart offenzulegen, ist erstaunlich, komisch, verblüffend.

Unterbrochen (und vermutlich wachgehalten) werden die Akteure durch die Live-Anrufe von seitensprungwilligen Ehemännern und -frauen, die bei der Agenturchefin per Handy um Vermittlung anfragen.

Bemerkenswert selbstironisch berühren die Wallenstein-Wiedergänger  durch ihre Lebensbeichten, ohne dabei zu arg in Eitelkeit oder Peinlichkeit abzurutschen. Das ist weit mehr als ein lustiges Reality-Panoptikum  nach der Art der abgeschmackten Nachmittags-Talkshows. Schiller lebt. Mitte unter uns, mitten in dieser Gesellschaft. Du bist Wallenstein. (msch)

Leise klingt der Bossa Nova „Wave“, ein Spalt im großen hölzernen Rund öffnet sich und eine Hand fängt zu putzen an. Worüber reden Mann und Frau in solcher Atmosphäre? Über dummes Zeug wie Trauerrituale in Finnland und Eidechsen, die wieder auftauen können. Lächerliche, manchmal auch schrill komische oder beängstigende Themen, hinter denen allerlei lächerliche, komische oder beängstigende Leidenschaften zutage kommen.

Regisseur Sebastian Nübling hat aus Händl Klaus’ „Dunkel lockende Welt“ einen federleichten Slapstick gemacht, einen eleganten Witz, hinter dem dunkel die klassischen Traumata aufflackern, die sich als Putzzwang, Mutterfixierung, Realitätsverlust oder Mordphantasie tarnen.

Corinna Schneider will  als Kiefernchirurgin nach Peru. Vor ihrem Auszug putzt sie manisch. Herr Hufschmied kriecht schon mal zwischen ihren langen Beinen unter den Stuhl, auf dem sie sitzt. Gern erzählt er von seiner verstorbenen Mutter. Für sie habe er auf ein eigenes Leben weitgehend verzichtet. Man redet von Aufbruch und Abschied, kommt einander gefährlich nah oder verausgabt sich bei schier endlosen Wortkaskaden wie Corinnas Mutter Mechtild.

„Dunkel lockende Welt“ von den Münchner Kammerspielen war im Juni beim Berliner Theatertreffen und gastierte nun im Thalia. Eine rätselhafte, skurrile, höchst amüsante Komödie, die Wiebke Puls, Gundi Ellert und Jochen Noch mit höchst virtuoser Körper- und Sprachakrobatik spielten. Sebastian Nübling  hat das Stück zwischen Holzwänden im 50er-Jahre-Chic inszeniert. Es geht um dunkle Geheimnisse und allerlei Abwesendes – die Väter, die Fremde oder den Menschen, zu dem die Zehe gehört, die Corinna nach einer gehörigen Hustenattacke und heftigen Schütteleien mittels Herrn Hufschmied ausspuckt. Wiebke Puls ist auch sichtbar schwanger noch wunderbar akrobatisch. Gesittet und derart geheimnisvoll parliert mit Herrn Hufschmied, daß es ihn umhaut. Später schickt sie ihre Mutter, eine Botanikerin. Doch die redet sich über Photosynthese derart in Furor, daß uns Hören und Sehen fast vergeht. Großartig und echt komisch.

Keines der vielen Rätsel wird gelöst. Muß es auch nicht. Denn diese dunkel lockende Welt ist ein helles Vergnügen. Hinter der blank geputzten Oberfläche verbirgt sich immer ein dunkles Geheimnis. Das wußten wir, aber so unterhaltsam und virtuos haben wir es noch nicht präsentieren bekommen.

 


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