Zum Abschied ein Fahrrad für Herrn Wetzel

„Ungunstraum – Alles zu seiner Zeit“: Performance in der Netzleitstelle der Stadtwerke

Von Gerald Siegmund

18.05.1998 / Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ursula Graul hat die Pflanzen, die an ihrem Arbeitsplatz stehen, geschenkt bekommen. Wie man davon Ableger ziehen kann, weiß sie nicht. Werner Wuls dagegen weiß, dass man Ableger züchtet, indem man die Triebe in ein Glas Wasser stellt. 540 Topfpflanzen gibt es in den Büros der Stadtwerke Frankfurt, Abteilung Versorgung, und 48 Topfpflanzenbesitzer. Im Bus der Stadtwerke Verkehrsgesellschaft, der die Teilnehmer an der Performance „Ungunstraum – Alles zu seiner Zeit“ vom Mousonturm zur Netzleitstelle der Stadtwerke Frankfurt am Main an der Gutleutstraße fährt, hängen 48 rechteckige Tafeln mit den Bildern der Topfpflanzenbesitzern, darunter jeweils noch einmal eine Tafel mit den entsprechenden Informationen. Hätten Sie’s gewusst?
Die drei Künstler Helgard Haug, Marcus Droß und Daniel Wetzel wollten es wissen. Für eine weitere Folge ihres Projekts „Ungunstraum“, das sie seit 1995 in verschiedenen Etappen an verschiedenen Orten Europas realisieren konnten, sind sie der Stromversorgung der Stadt Frankfurt nachgegangen und sind dabei auf die Besuchergalerie der Netzleitstelle gestoßen. Von hier oben blickt man hinunter in die Kommandozentrale, wo alle Fäden des städtischen Stromnetzes zusammenlaufen. Dort hat sich das Trio eingenistet wie ein Parasit beim Wirt.
In ihren Arbeiten geht es Haug, Droß und Wetzel immer um Wege und Wegstrecken, um Verbetzungen, die sie aus dem öffentlichen Raum herausheben, in Zeichen übersetzen, um sie so symbolisch einer Landkarte gleich an einem Ort bündeln und einsehbar machen zu können. Doch das, was während des Aufführungsprozesses zu sehen ist, sind wiederum nur Spuren eines kontinuierlichen Arbeitsprozesses, der sich nur für die Dauer einer Stunde im Beisein des Publikums vollzieht. So bilden alle ihre Einzelprojekte, die sich von der Wassertalsperre im belgischen Eupen bis hinunter zum Deutschen Literaturarchiv am Neckar ziehen, ebenfalls ein Netzwerk, das mit jeder Station immer dichter geknüpft wird.
Mit Kopfhörern und Empfangsgeräten ausgerüstet, lauscht der Besucher den Erklärungen eines Herrn Wetzel, der natürlich gar nicht Wetzel heißt, sondern nur den Herrn Wetzel des Künstlertrios vertritt. Der Stellvertreter berichtet von Umspannwerken, alten Wasserkraftwerken aus den dreißiger Jahren, die nur noch fünf Prozent des städtischen Stromverbrauch decken, und defekten Kabeln, die sich selbst abschalten. Wer bislang glaubte, der Strom kommt einfach aus der Steckdose, kann während der Performance viel lernen. Da sage noch einmal jemand Kunst sein überflüssig.
Jener Herr Wetzel, der ja nur das Zeichen des anderen Herrn Wetzel ist, wird nach seinem spannenden Vortrag nach 35 Dienstjahren feierlich verabschiedet. Als letzte Amtshandlung soll er noch einmal die Straßenbeleuchtung der Stadt Frankfurt anschalten. Doch in der Stadt am Main ist es um 21 Uhr noch zu hell. So verzögert sich der dramatische Höhepunkt des Abends, wie es sich für einen dramatischen Höhepunkt eben gebührt.
Zum Abschied hat sich Herr Wetzel ein Fahrrad gewünscht, mit dem er aus der Netzleistelle wieder hinaus in die Welt fahren kann, hinunter zum Bodensee, einer neuen Strecke auf der Spur. Doch das erfährt der Besucher erst auf dem Rückweg, als er wieder zum Ausgangspunkt der Exkursion chauffiert wird.
Es sind diese Leichten Verwischungen zwischen Realität und Fiktion, die den Abend spannend machen. Mal glaubt man ernsthaft, einer Realsatire beizuwohnen, dann drängt sich der Inszenierungsaspekt wieder stärker in den Vordergrund. Bei Haug, Droß und Wetzel werden arbeitende Menschen zu Darstellern und Helden, während die Künstler zu Arbeitern werden, die, wie die Männer und Frauen der Stromversorgung, für den reibungslosen Ablauf sorgen, ohne selbst in herausgehobener Poition in Erscheinung zu treten.


Projekte

Ungunstraum - Alles zu seiner Zeit