Zettel träumen nicht

Das Theater als Gericht: In "Zeugen! Ein Strafkammerspiel" erforscht die Gruppe Rimini-Protokoll im HAU 2 die Choreografie der Bürokratie und die Realität der Justiz

Von Katrin Bettina Müller

13.01.2004 / taz

Der Prolog: Ortstermin in Moabit, eine Einladung der Performance-Gruppe Rimini Protokoll, die ihr Stück "Zeugen! Ein Strafkammerspiel" vorbereiten. Viel zu viel Text, das ist der erste Eindruck von der Realität der Justiz. Über tausend Seiten umfassten die Akten in einem Fall, bei dem es um einen gestohlenen Lieferwagen und möglicherweise um einen Versicherungsbetrug ging. Am Ende wird der Angeklagte freigesprochen, weil die Beweislage wegen widersprüchlicher Gutachten unüberschaubar ist. Den Zuschauern, die mit Rimini-Protokoll den kurzen Prozess beobachteten, leuchtet vor allem eines ein: dass der Aufwand der Wahrheitsfindung in keinem Verhältnis zum Ereignis steht.

Die Premiere: "Zeugen! Ein Strafkammerspiel" beginnt mit einem ungewöhnlichen Auftritt. Leise und hochgradig nervös kommt Detlef Weisgerber auf die Bühne und zitiert aus seinen Briefen. Er ist Prozessbeobachter aus Leidenschaft, er schreibt an Gerichtspräsidenten, wenn er glaubt, mehr Gerechtigkeit wäre möglich gewesen. Seine Formulierungen sind präzise und akribisch, genau angelehnt an den Ton der Juristen, und doch hat seine Stimme kein Gewicht.

Mit ihm hat das Regieteam von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel gleich einen interessanten Ton gefunden, der um so surrealer erscheint, je mehr er sich um Genauigkeit bemüht. "Zeugen! Ein Strafkammerspiel" dauert zweieinhalb Stunden und ist in der ersten Hälfte spannend. Eine Gerichtszeichnerin breitet ihre Porträts von Anklagten aus und erzählt, wie sich Gesichter mit Erinnerungen verknüpfen und wie leicht man vergisst. Erinnerung aber wird als Basis jeder Zeugenaussage ständig abgefragt bei Gericht, und da hat niemand eine Zeichnung als Hilfe dabei. Eine Prozessbegleiterin, die sich für die Opfer von Gewalttaten an Frauen engagiert, beschreibt die Anordnung von Gerichtssälen und den großen psychischen Druck, den der juristische Apparat ausübt. Wieder wird die Objektivität von Zeugenschaft in Frage gestellt, und das ist diesmal eine Frage von Machtverhältnissen. Ein Strafverteidiger gibt eine Vorstellung davon, was es heißen kann, 400-mal im Jahr mit Mord, Raub, Vergewaltigung konfrontiert zu sein. Er listet Paragrafen für ungewöhnliche Verbrechen auf wie die Vorbereitung eines Angriffskrieges.

Derweil wird ein Gerichtssaal aufgebaut, für jeden Paragrafen, den der Strafverteidiger nennt, ein Holzpaneel verlegt. Diese rhythmischen Prozesse strukturieren den Stoff. Jeder stellt sich mit eigenen Worten vor und übernimmt Text von einer Souffleuse, gesammelte Statements über die Zweifel an der Rechtsprechung. Als Chor führen sie die zehn typischen Körperhaltungen des Angeklagten und der wachhabenden Polizisten vor. Aus all diesen Marginalien setzt sich allmählich das Bild zusammen, wie Wirklichkeit vor Gericht inszeniert wird.

Realität und Fiktion, sie tauschen oft die Plätze: Die Spannung hier aber macht aus, dass man im Prozess der Urteilsfindung - und das gilt nicht nur vor Gericht - ständig über den Gehalt an Realem und Fiktionalem nachdenken muss. Deshalb war das Gericht so attraktiv für die Rimini-Forschung über die theatralen Performanzen des Alltags. Das Spiel mit ihrer Inszenierung ist keine Binsenweisheit, sondern von raffinierter Dynamik.

Epilog: "Zeugen! Ein Strafkammerspiel" ist allerdings auch Ergebnis einer Recherche, die sich gewaltig zu verzetteln beginnt. Irgendwann erliegt die Struktur der Materialfülle. Viel zu viel Text, viel zu viele Akten. Als ob sie befürchteten, das Wichtigste noch nicht gesagt zu haben, lassen die drei Regisseure ihre Akteure weiter und weiter spielen. Als ob die Reflexion auf dem Theater einen Prozess in Gang gesetzt hätte, der sich so schnell nicht mehr stoppen lässt.

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Zeugen! Ein Strafkammerspiel