Wunderlicher Sieben-Stunden-Trip durch die Brandenburger Mückenhölle: „Shared Landscapes“

Stefan Kaegi und Kollegen versuchen auf dem Performance-Parcours „Shared Landscapes“ im Wald bei Hangelsberg, Natur neu zu sehen. Was daran geht gut und was nicht?

Von Doris Meierhenrich

20.08.2023 / Berliner Zeitung

Im Grunde ist es ja mindestens die zweitbeste Idee, bei über 32 Grad die Stadt zu verlassen und – nein, nicht in den See – in den Wald zu gehen. Dorthin, wo das gleißende Sonnenlicht von üppigen Baumkronen abgefangen wird und in tausenderlei Schattierungen auf Böden und Stämmen sein erfrischendes, immer auch beruhigendes Lichtspiel aufführt. Auch im berlinnahen Hangelsberger Forst, der zum Teil mit einem wunderbar hohen Mischwald aufwartet, war am Wochenende derart schönes Lichtspiel zu sehen. Von Frische allerdings kein Spur. Zudem herrschte eine Ruhe in der treibhausdicken Waldluft, dass es fast schon gespenstisch schien.
Und schon sind wir auch mittendrin in dem Performance-Parcours „Shared Landscapes“, den Stefan Kaegi von der Künstlergruppe Rimini Protokoll sowie die Kuratorin Caroline Barneaud zusammen mit sieben internationalen Künstlerkollektiven entworfen haben; um die Natur einmal aus ihrer immer nur dienenden, auch der Kunst dienenden Rolle zu holen und ihr allein die Bühne zu geben. Als groß konzipiertes EU-Projekt ist es bereits in Avignon und Lausanne zu erleben gewesen; und über Berliner Festspiele nun also in Hangelsberg. Und so schwemmten am Samstagmittag gleich einige Hundert Hauptstädter ebendort aus dem Zug von Berlin, ließen den kleinen Ort rechts liegen und bogen direkt auf den Waldlehrpfad in Richtung Waldschule ein, wo die Ausrüster mit Kopfhörern, Klappstühlen und Decken warteten. Auf seltsame Weise gespenstisch war schon diese Invasion, die im Grünen nun das zu befreien sucht, was in der Stadt irgendwie erledigt scheint: das Übergangene, Verdrängte.
Aber ein gewiefter Kultursoziologe wie Stefan Kaegi, der mit seinem multiperspektivischen Recherchetheater und den „Experten des Alltags“ auf der Bühne seit über zwanzig Jahren die Augen schärft für die Verflechtungen von Theater und Realität, weiß natürlich auch diesmal um die Fallgruben und Widersprüche seines Projekts. Natur erlebbar machen im inszenierten Kulturwald von Brandenburg mit bestellten Lunch-Paketen in der Pause und Wasser-Nachfüllstation? Ist natürlich Kappes. Und so erlebt man auf diesem wunderlich widersprüchlichen Sieben-Stunden-Trip durch die Mückenhölle von Brandenburg nicht nur sieben teils spitz ausgeklügelte, teils esoterisch abdriftende Happenings zwischen Nutzkiefern und Uralt-Eichen; man muss sich als Teilnehmer und Mitspieler dieses immer auch leicht farcenhaften Betriebsausflugs vor allem selbst mitsehen – und befragen, was man denn nun sucht in diesem Wald.
 
Stefan Kaegi selbst gibt gleich zu Beginn mit seinem vorproduzierten Hörstück freundlich Hilfestellung, dem wir entspannt im Liegen lauschen. Eine brasilianische Sängerin erzählt darin, wie anders sie den Wald aus ihrem Land kennt: Das Grün dort sei satt dunkel, eher gefährlich und vor allem unvorhersehbar lebendig. Nie würde sie dort auf dem Boden liegen wie wir nun, wobei sich ihre Urwalderfahrung kurzerhand mit dem kulturaffinen Naturbegriff Sigmund Freuds zusammenschließt, den eine Psychologin in das Waldgespräch einstreut. „Natur“ verstand er als das radikal Unberechenbare, Unkultivierbare, auch in uns, weshalb wir genaugenommen nie ganz waldlos durchs Leben wandern. Wie wenig dieses Unberechenbare noch mit dem Hangelsberger Forst zu tun hat, erklärt Förster Christian Hohm dazu: Ohne seine Eingriffe durch Jagd und Einführung neuer Baumarten wäre dieses Stück Wald, das auch noch große Teile von Kiefern-Monokultur enthält, kaum lebensfähig. Eine Meteorologin steuert ihre Kippmomente zwischen Vorhersagbarkeit und Wetter-Willkür bei.
Ein leichtes, unzählige Themen streifendes Frage-und-Antwort-Spiel entspannt sich, das die Karte dieser Reflexionsreise zwischen Mensch und Natur so vielfältig aufschlägt, wie wir es von Rimini Protokoll kennen. Gespenstisch aber schon hier, wie das Vogelgezwitscher durch die Kopfhörer rauscht, das real gar nicht vorhanden ist. Fast tot kommt einem der Wald vielmehr vor, in den wir forschend hinein und an dem wir doch seltsam projektiv vorbeihören. Zugleich aber treibt genau das den heilsamen Keil in die Illusion, wir erlebten hier unmittelbar „die Natur“. Viel allgemein Bekanntes wird dennoch wiederholt, was die Informationsvielfalt und Dichte früherer Rimini-Projekte etwas herbeisehnen lässt.
Und bis am Ende des Tages in der Arbeit von Emilia Rousset dann doch noch ein paar wirklich herzhaft zupackende Rimini-Momente entstehen, als der Landwirt Carlo Horn etwa im Traktor aus dem Dickicht auffährt und uns die ungeahnte Wirtschaftlichkeit seiner Heu-Pressverfahren erklärt oder die Ethnologin Fanny Rybak das Ton-Alphabet der Lerchen, wird auch viel Esoterisches, Geheimniskrämerisches produziert. Da wird zum Beispiel versucht, eins zu werden mit den Bäumen (Sofia Dias & Vitor Roriz) oder allein durch die Fantasie einzudringen in die Landschaft (Chiara Bersani).
Fluchtfantasien hat man angesichts der Mückendramen, die nebenbei zu bewältigen sind, durchaus. Doch dann hätte man die schönsten, weil überraschendsten Momente dieses Tages verpasst: sechs Blechbläser, die immer wieder wie aus dem Nichts auftauchen, scheuen Mischwesen gleich, im Moos liegend oder hinter Sträuchern hockend und Ari Benjamin Meyers hauchig knurrende, quietschende Kompositionen spielen. Eine Tuba beginnt grollend, eine Posaune antwortet piepsend, und bald wird ein bizarr holpriger Tondialog daraus, der Instrumente, Pflanzen, Erde, Vögel und Menschen nicht schöner (weil fremd der Natur wie der Kultur gegenüber) hätte zusammenbringen können.

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