Von Eva Berendt
01.09.2002 / Jahrbuch der Zeitschrift „Theater heute“ 2002
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Die Projektkünstler Stefan Kaegi, Bernd Ernst, Daniel Wetzel und Helgard Haug (zusammen: „Rimini Protokoll“) dürften den Festival-Forschungsbereich „Deutschland“ eher zufällig übernommen haben; dass sie sich in besonderem Maße mit Deutschland beschäftigten, hat eher mit ihrer Arbeitsweise zu tun, die immer an vorgefundene Räume und alltägliche Prozesse anknüpft. Ihre Theaterprojekte sind konzeptionelle Experimente, deren wichtigster Bestandteil das Publikum selbst ist und in denen die Beobachtung der eigenen Wahrnehmung ins Zentrum gerückt wird. So versetzten sie in Hannover die Zuschauer in die verdoppelte Position von Observanten, die, mit Kopfhörern und Fernglas bewaffnet, von einem Hochhaus aus die Fußgängerzonenschnittstelle Kröpcke bespitzelten. Unten auf dem Platz inszenierten Mitarbeiter mit Passanten komische Zufallsszenen. Sie wurden direkt akustisch bertragen und fügten sich gemeinsam mit den selbst gelenkten Fernglasausschnitten zu lauter individuellen Filmen zusammen, die dann doch noch, dank eingespielter Hörspielelemente und Anweisungen zu Lenkung des Fernglases, eine dramatische Struktur erhielten. Was alles höchst kompliziert klingt und auch kompliziert zu organisieren sein dürfte, tatsächlich aber ein sehr unterhaltsames und überraschend mit dem eigenen Voyeurismus spielendes „Fernseh“-Erlebnis ergibt.
Kein Einzelfall: Der Deutsche Bundestag. Das Regiekollektiv Rimini Protokoll lässt in „Deutschland 2“ das Parlament von Bonner Bürgern doubeln (oben). Links: Christoph Schlingensief in „Aktion 18“ und unmittelbarer Nähe des Düsseldorfer Firmensitzes von Jürgen Möllemann FOTOS MICHAEL BAUSE, THEATER DER WELT
Die Kopieperformance „Deutschland 2“, in der eine Bundestagssitzung im Berliner Reichstag vom 9 Uhr bis Mitternacht zeitgleich von Bonner Bürgern im ehemaligen Parlamentsgebäude gedoubelt (nicht: nachgespielt oder parodiert) werden sollte, war allerdings theoretisch am Tag der Aufführung schon gelaufen. So hatte die bloße Ankündigung des Copy-Konzepts seine größten Wellen bereits geschlagen: Wolfgang Thierse hatte die Nutzung des Ex-Parlaments wegen Gefährdung der Würde des Bundestags untersagt und damit den Künstlern unverhofft den Subversionsorden verliehen; „Rimini-Protokoll“, kopierwillige Bonner Bürger und diverse Abgeordnete hatten in spannenden Briefwechseln ausgiebig über die symbolisch Repräsentation der Repräsentanten (oder, mit Theater gesprochen, der Inszenierung der Inszenierung) für die deutsche Demokratie wie für das politikverlassene Bonn diskutiert, jedoch nicht verhindern können, dass die Kopie in der abgelegenen und auratisch minderbemittelten Schauspielhalle in Bonn-Beuel stattfinden musste. Dort entwickelte „Deutschland 2“, von belegten Brötchen und sonnigen Picknickbänken umlagert, immerhin den Charme eines Tags der offenen Tür an der örtlichen Volkshochschule. Und ausgesprochen werbende Qualitäten: Denn eigentlich ist so eine parlamentarische Demokratie doch erstaunlich transparent, wenn auch meistens langweilig und interessant immer nur dann, wenn einer dem andern demonstrativ das Wasser abzugraben versucht.
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