Von Adelheid Müller-Lissner
31.01.2012 / www.tagesspiegel.de/wissen/wer-ich-bin/6129170.html
Es gibt Kinder, die aus dem Bauch und Kinder, die aus dem Flugzeug kommen. So jedenfalls hat die deutsche Adoptivmutter dem Mädchen die Sache erklärt. Einem Kind, das mit dem Aktenzeichen K77-2178 versehen 1977 im Alter von acht Monaten aus Südkorea nach Osnabrück kam. Welcome to Germany. „Welcome to you“, so wird Miriam Yung Min Stein über drei Jahrzehnte später von der Firma „23andMe“ begrüßt. Für 1000 Dollar möchte sie dort Auskunft über ihre Gene bekommen.
Das „Kind aus dem Flugzeug“ hat nie das Mindeste über seine biologischen Eltern erfahren. Selbst dass sie als Baby in einem Schuhkarton, von Zeitungspapier geschützt, vor dem Rathaus von Seoul abgestellt worden sei, erweist sich später, anlässlich eines Besuchs im Geburtsland, als landesübliche Legende.
„Du schaust in den Spiegel und siehst anders aus, als du dich fühlst.“ Anders als die zwei leiblichen Kinder der Familie Stein, ihre blonden, blauäugigen Geschwister.
Die ambivalenten Gefühle, die viele andere Frauen ergreifen, wenn Partner oder Freunde ihnen versichern: Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher – Miriam Stein, der ihre Adoptiveltern den zweiten Namen Dorothee, Gottesgeschenk, mit ins Leben gegeben haben, bleiben sie verschlossen.
Sie beschließt: „Wenn ich das Gesicht meiner Mutter schon nicht kenne, möchte ich wenigstens ihre Krankheiten kennen.“ 23andMe – und zur Sicherheit auch die Konkurrenz-Firma „deCODEme“ – sollen das möglich machen. Die beiden Firmen machen über das Internet direkte Angebote, die mit dem deutschen Gendiagnostikgesetz nicht in Einklang stehen, weil sie keine obligatorische Beratung beinhalten.
Etwas Spucke, in ein Röhrchen verpackt, in einen wattierten Umschlag stecken und zur Post bringen. Geld überweisen. Und etwas später lesen, dass die eigene DNS sich nur wenig von der eines durchschnittlichen Mitteleuropäers unterscheidet. Obwohl die Diskrepanz zu den Geschwistern in Osnabrück doch so auffällig war. Zu erfahren, dass man näher mit Popstar Bono als mit Genetikstar Craig Venter verwandt ist.
Dass sie „als Mann“ ein leicht erhöhtes Risiko habe, Haarausfall und Prostatakrebs zu bekommen, hat die junge Frau ziemlich kalt gelassen. Bedenklicher schien ihr schon, dass die Gefahr, eines Tages an Alzheimer zu erkranken, von 23andMe als um 20 Prozent erhöht beschrieben wurde. Am bedenklichsten aber, dass die Analysen der beiden Institute in so vielen Punkten nicht übereinstimmten.
Miriam Yung Min Stein ist Journalistin, hat das Buch „Auf der Reise zu mir selbst“ geschrieben und erzählt in einem Vorhaben der Berliner Künstlergruppe Rimini Protokoll im Stück „Black Tie“ Teile ihrer Lebensgeschichte einschließlich der doppelten DNS-Analyse. Das ist an und für sich schon ausgefallen genug. Die Vorstellung am letzten Donnerstag im Theater Hebbel am Ufer HAU 3 war noch ein bisschen ausgefallener, denn im Anschluss daran diskutierten die Theatermacher und „Experten des Alltags“ mit Experten für Gentechnik.
„Was Sie über Krankheitsrisiken mitgeteilt bekommen haben, das sind statistische Werte, die nur für Kollektive interessant sind“, erfuhr Miriam Yung Min Stein von Arnold Sauter vom Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag.
„Die Gene allein machen nichts, sie müssen zuerst an- oder abgestellt werden“, ergänzte Silke Domasch von der Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Der Molekularbiologe Johannes Maurer von der ImaGenes GmbH, dessen Rat von den Theatermachern schon bei der Entwicklung des Stücks eingeholt worden war, zeigte sich ebenfalls skeptisch: „Was bringt es einem Menschen, der auf der Suche nach seiner Identität ist, wenn er einen solchen Test macht?“
Wenn man nicht wisse, wo man herkommt, dann sei man bereit, alles zu tun, um das zu ändern, dann finde man auch „diesen genetischen Weg“ vielversprechend, so begründete Miriam Yung Min Stein ihren Entschluss. Inzwischen weiß sie, dass sie Daten eingekauft hat, die ihr zwar einiges über ihre biologische Herkunft, aber so gut wie nichts über ihre Identität erzählen können.
Wie viel von dem, was einen Menschen ausmacht, steckt in seinen Genen? In der vollen U-Bahn in Seoul hatte die zierliche Frau mit den glatten dunklen Haaren ein neues Gefühl, das ihr in Osnabrück gefehlt hatte: „Für einen langen Moment war ich eine von ihnen.“ Das änderte sich schlagartig, als ein anderer Fahrgast die erste Frage an sie stellte. Kein Zweifel: Hier war sie fremd.