Von Doris Meierhenrich
30.10.2023 / Berliner Zeitung
Das Schöne an dem Schweizer Theater Hora ist, dass sich seine ansteckende Energie immer dort entzündet, wo man sie am wenigsten erwartet. Bei der Berlin-Premiere im HAU, wo ihre Salzburger Koproduktion von Bertholt Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“ gerade Station gemacht hat, gab es einen solchen Moment gleich zu Beginn, als sich die Grusche-Schauspielerin Elena Gisler berstend vor diebischer Freude plötzlich die Hände vors Gesicht schlug. Gerade sollte sich dialektisch komplex das Mutter-Drama um sie herum entfalten – da schallte in entwaffnender Einfachheit leises Babygeräusch aus dem Saal herauf.
So grotesk wie genau passend für diesen lockeren Konzepttheaterabend, mit dem die findige Theatermacherin Helgard Haug von Rimini Protokoll zusammen mit dem inklusiven Theater aus Zürich den Brecht-Klassiker kräftig durchrüttelt. Denn Haug, die sonst nur aus der intensiven Beschäftigung mit Menschen des Alltags ihre Arbeiten entwickelt, hat hier zum ersten Mal überhaupt einen literarischen Text als Grundlage einer Bühnenproduktion gewählt, wohlweislich von einem Meister, der alles Vorgefundene selbst nur an seiner Tauglichkeit fürs eigene Ziel maß.
Erfrischenderweise hält sich dieser Abend so auch nicht mit der verschachtelten Handlung auf. Der stattlich spitzbärtige Remo Beuggert erklärt vielmehr rasch die Figuren, nimmt sich selbst die Rolle des verschrobenen Richters Azdak und lässt das Spiel gleich mit dem Ende und seiner zentralen Gerichtsszene beginnen.
Zwei Mütter streiten um ein Kind: die biologische, die zwar Fürstliches zu bieten hat, es aber in Gefahr verließ, und die sorgende, die es liebevoll annahm, ihm aber nichts zu bieten hat. Wer zieht das Kind als erste aus dem Kreis?
Auf der zum leuchtenden Spielbrett geordneten Bühne steht der gar nicht mehr kleine Robin Gilly im Blaumann als Michel im Zentrum und lässt sich von Elena auf der einen und Remo (der die erkrankte Fürstin Tiziana Pagliaro ersetzt) auf der anderen Seite hin- und herziehen.
Zeitlupenhaft überdehnen sie die Zerreißprobe einen Moment zum großen, symbolischen Akt und gnickern kurz darauf selbst darüber. Nicht das Große, das Kleine wird hier bedeutend. Denn zwar gewinnt die Fürstin den Kampf, die Mutter nimmt ihr dennoch niemand ab.
Achtmal wird die Probe wiederholt mit immer anderen Mutterkandidaten, doch der Richter bleibt so skeptisch wie das Kind selbst. Was muss eine Mutter tun? Wer will, wer kann überhaupt „Mutter“?
Aus den Mündern der Hora-Spieler, die mit dem Downsyndrom oder anderen kognitiven Beeinträchtigungen geboren wurden und bei diesen offenen Überlegungen auch ihre eigenen Geschichten einbringen, klingt daran gar nichts mehr selbstverständlich. Was, wenn Brechts Michel ausgesehen hätte wie sie? Zu der wunderbaren Percussionmusik von Barbara Morgenstern, eingespielt von Minhye Ko, ist Helgard Haug und den Horas ein so nachdenklicher wie leidenschaftlicher und dabei immer selbstparodistischer Abend gelungen. Das ist kein Widerspruch, sondern Hora-Kunst.